NRW: Thomas Henne: „Die archivrechtliche Anbietungspflicht“

Emails, Chatverläufe sind anzubieten vs „Vielleicht sollte man mal die Historiker fragen, was sie für nötig halten, nicht die Juristen!“. Beginn einer Debatte.

„Bei mehreren aktuell arbeitenden Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen des Landtages NRW ist aus Sicht der sozialdemokratischen Abgeordneten der Zugang zur relevanten Behördenunterlagen unzureichend, weil die Unterlagen teilweise gelöscht wurden. Daraus entstand auch die Frage, ob die archivrechtliche Anbietungspflicht in diesen Fällen unterlaufen wird.
In einer Besprechung mit den SPD-Mitgliedern der Untersuchungsausschüsse konnte Prof. Thomas Henne am Montag [13.10] die Rechtsgrundlagen des Landesarchivgesetzes erläutern. Zentral waren dabei der
● weite Unterlagenbegriff des Gesetzes (auch „elektronische Aufzeichnungen“ sind erfasst) und das im Gesetz erfreulicherweise verankerte
● archivrechtliche Löschungssurrogat (die Anbietung an das Archiv ist ein Surrogat für die vom Fachgesetz vorgeschriebene Löschung).
Ausgehend von dem eindeutigen Wortlaut des Landesarchivgesetzes zeigte sich, dass die von den NRW-Ministerien vertretene Rechtsauffassung, eine Veraktung sei Voraussetzung für das Entstehen der archivrechtlichen Anbietungspflicht, nicht haltbar ist. Auch eine „Löschroutine“ bei Messengerdiensten, die zur Datensicherheit eingeführt wird, kann die archivrechtliche Anbietungspflicht nicht aufheben.
Die weitergehende Frage, ab wann die Nichtvorlage von Unterlagen an einen Untersuchungsausschuss strafrechtlich relevant wird (§ 274 StGB – Urkundenunterdrückung), führte dann über das Archivrecht hinaus, da jedenfalls die Nichtanbietung an Archive keinen Straftatbestand erfüllt.

Alle diese Fragen und Argumente sind nicht spezifisch für das Landesarchivrecht NRW, sondern die Nichtbeachtung der archivrechtlichen Anbietungspflicht insbesondere durch Ministerien und die These, dass Chats aus Messengerdiensten mangels Veraktung nicht anbietungspflichtig sind, sind auf Bundesebene leider genauso verbreitet wie in anderen Bundesländern. Das gilt auch für archivrechtswidrige Löschroutinen.
…. Und über die bei der Diskussion aufgetauchte Überlegung, ob die Resilienz öffentlicher Archive gegenüber politischen Interventionen durch eine organisatorische Verselbstständigung zu verbessern ist, lohnt sich ebenfalls die weitere Diskussion.
Im Anschluss an den Besuch bei der SPD gab es ein erfreulich breites Medienecho„:

– Interview für WDR Aktuell am 14.10 ab 12:45 Uhr: https://www1.wdr.de/fernsehen/wdr-aktuell/index.html (ab 2:53 Min.)
– Bericht in der Rheinische Post Mediengruppe Kommunikation v. 14.10: https://rp-online.de/nrw/landespolitik/sms-und-chats-jurist-wirft-nrw-landesregierung-rechtsbruch-vor_aid-136799261
– Bericht bei WDR Nachrichten v. 14.10.: https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/landesregierung-begeht-rechtsburch-archiv-100.html
– Bericht bei SAT 1 NRW: https://www.sat1nrw.de/?p=262820&s1b_share_src=wa
Jürgen Brautmeier: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Nein!, in: Blog der Republik, 15.10.2025, Link: https://www.blog-der-republik.de/vertrauen-ist-gut-kontrolle-ist-besser-nein/
– Thomas Henne: „Die archivrechtlicheAnbietungspflicht von Chatnachrichten – eine Replik“  auf Brautmeiers Blogeintrag (s. o.) auf LinkedIn vom 16.10.2025
– Gelöscht oder im Archiv? – Wo sollen die Chats der Regierung hin? | Aktuelle Stunde, 14.10.202503:28 Min.. Verfügbar bis 14.10.2027: https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/kommentar-akten-nrw-100.html

– Rüge für Landesregierung: Laxe Löschpraxis bei Dienstchats, WDR 5 Westblick – aktuell. 14.10.2025. 05:20 Min.:

– Kommentar: Die Chats der Regierung gehören ins Archiv! WDR 5 Westblick – aktuell. 14.10.2025. 02:07 Min.. Verfügbar bis 14.10.2026. WDR 5:

Landtagsdokumente (Auswahl) zum Thema:
– Nach EuGH-Urteil zu Frau von der Leyens SMS: NRW-Landesregierung muss Transparenz gewährleisten!, Antrag der SPD v. 30.9.2025, Drs 18/15901
Plenarprotokoll 18/103 vom 8.10.2025, S. 53 – 61: Aussprache über den obigen Antrag
– Widersprüchliche Aussagen zur Löschpraxis im Innenministerium – Was wusste der Minister von den Löschungen seiner Staatssekretärin? Kleine Anfrage (SPD) v. 8.10.2025, Drs 18/15996
– [Nachtrag, 13.11.2025: Antwort des IM auf die Kleine Anfrage v. 7.11.2025, Link]
– Fragwürdige Löschpraxis innerhalb der Landesregierung – Wie hält es Minister Reul mit der Transparenz?, Antwort auf Kleine Anfrage (SPD) v. 12.9.2025, Drs 18/15603
– Fragwürdige Löschpraxis innerhalb der Landesregierung – Wie hält es Minister Dr. Limbach mit der Transparenz?, Antwort auf Kleine Anfrage (SPD) v. 15.9.2025, Drs 18/15605
– Fragwürdige Löschpraxis innerhalb der Landesregierung – Wie hält es Minister Brandes mit der Transparenz?, Antwort auf Kleine Anfrage (SPD) v. 11.9.2025, Drs 18/15546
– Fragwürdige Löschpraxis innerhalb der Landesregierung – Wie hält es Ministerpräsident Wüst mit der Transparenz?, Antwort auf Kleine Anfrage (SPD) v. 11.9.2025, Drs 18/15545

s. a. archivar: Urkundenunterdrückung in Messengerdiensten, in: siwiarchiv, 26. Juni 2025
s. a. archivar: Sachstand: Evaluierung des Archivgesetzes NRW (2018 – 2026), siwiarchiv, 7. September 2025

Quelle: Thomas Henne: „Die archivrechtliche Anbietungspflicht – Termin bei der SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen “ , LinkedIn, 14.10.2025

8 Gedanken zu „NRW: Thomas Henne: „Die archivrechtliche Anbietungspflicht“

  1. Literaturhinweise:
    1) Martin Schlemmer, Jakob Wührer, Historische Forschung – Archiv – Verwaltung. Eine zu entdeckende Dreiecksbeziehung als Schicksalsgemeinschaft in digitalen Zeiten , in:Historische Zeitschrift 320 (2025), 1, S. 107 – 130, Link: https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/hzhz-2025-0003/html

    Aus der Perspektive des öffentlichen Archivwesens richtet der Beitrag einen Blick auf die Dreiecksbeziehung zwischen öffentlicher Verwaltung, öffentlichem Archivwesen und historischer Forschung. Betrachtet wird vornehmlich die Rolle des Archivs in dieser Konstellation, die in Zeiten einer umfassenden digitalen Transformation als Schicksalsgemeinschaft beschrieben wird. Das „Funktionieren“ der Archivierung als gesellschaftlicher Kulturtechnik hängt nicht alleine von den Archiven ab: Aus dem Unterlagenanfall der Verwaltung bildet das Archiv exklusiv die Überlieferung, die der Geschichtswissenschaft zur Interpretation der Vergangenheit zur Verfügung steht. Durch die Digitalisierung als gesamtgesellschaftliche Dynamik sehen die Autoren dieses traditionelle Zusammenspiel zwischen den drei Bereichen auf neue wie besondere Weise herausgefordert: Ausgangspunkt ist die Frage nach den Überlieferungsbedingungen (Rahmenbedingungen) für Unterlagen des „digitalen Zeitalters“, konkret für genuin digitale Überlieferung: Was bleibt vom digitalen Zeitalter an dokumentierter Information – abhängig vom Entstehungskontext in der Verwaltung – erhalten und wie kann diese archivierte Information interpretiert werden? Smart Government, digitale Archivierung und digital humanities verändern die Ausgangsposition jedes dieser drei Bereiche auf eine Weise, die Archivierung letztendlich nicht mehr als von den Archiven allein zu erbringende Eigenleistung gelingen lässt. Für die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen und aussagekräftigen Überlieferungsbildung im digitalen Zeitalter ist es notwendig, dass in allen drei angesprochenen Bereichen eine Reflexion über die jeweilige Rolle im beschriebenen Beziehungsdreieck erfolgt und sich der Austausch untereinander etabliert bzw. intensiviert: Im Zentrum des Dreiecks kann sich so ein „Archivieren-Wollen“ im digitalen Zeitalter manifestieren, dass die genuin digitale Überlieferung nicht von einem fatalen Überlieferungszufall abhängig macht.
    Quelle: Historische Zeitschrift 320 (2025), 1 , in: H-Soz-Kult, 07.02.2025, https://www.hsozkult.de/journal/id/z6ann-152919.
    2) Martin Schlemmer: „E-Akte! Wir arbeiten doch schon digital!“ Wozu dient unter wem eine gute elektronsiche Aktenführung.Erfahrungen aus der Behördenberatungspraxis in der Landesverwaltung NRW (Vortrag auf dem 25. ÖV-Symposiums NRW am 11. September 2024 in Düsseldorf, in: Scrinium 2025
    3) Dr. Martin Schlemmer, Duisburg, Leserbrief „Alternativlose Anbietung an das Archiv“ in der FAZ v. 30. Juni 2025: „Den Ausführungen von Thomas Thiel in dem Beitrag „Rest von Geheimnis“ (F.A.Z. vom 11. Juni) zu Verstößen gegen die behördliche Dokumentationspflicht ist grundsätzlich beizupflichten. Allerdings ist es ebenso notwendig, eine Differenzierung vorzunehmen: Zunächst gilt es, Aktenführung als ordnungsgemäße Dokumentation der Aufgabenwahrnehmung der öffentlichen Verwaltung zu verstehen. Die Verwaltung kommt mit der Dokumentation wesentlicher Schritte ihrer Entscheidungsfindung dem im Grundgesetz verankerten Transparenzgebot nach. Somit wird Verwaltungshandeln im demokratischen Rechtsstaat überprüfbar. Das Mittel der Dokumentation ist, so haben es Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht in den Achtzigerjahren verbindlich entschieden, die (elektronische) Akte. Hier, an diesem zentralen und sicheren Ort – Stichworte: Informationssicherheit und Revisionssicherheit –, sollten alle wesentlichen, entscheidungserheblichen Informationen zu einem Geschäftsvorfall (Vorgang) zu finden sein. Die Rechenschaftspflicht der öffentlichen Verwaltung bezieht sich auf gegenwärtiges Verwaltungshandeln. Hiervon zu unterscheiden ist die Anbietung nicht mehr für die Aufgabenerledigung benötigten Schriftguts (Unterlagen) an das zuständige öffentliche Archiv. Diese erfolgt nach Ablauf der festgelegten Aufbewahrungsfrist zwecks späterer Nutzung im Archiv. Eine E-Mail oder eine Messenger-Information mit Aufgabenbezug, die im personalisierten Account eines Behördenmitarbeiters verbleibt und eines Tages ohne vorherige Anbietung an das zuständige Archiv gelöscht wird, stellt einen zweifachen Verstoß gegen geltendes Recht dar: Zunächst wird der Inhalt der nicht verakteten E-Mail der Kenntnis und folglich auch der Bearbeitung innerhalb der Behörde entzogen. Die betreffende Einzelinformation ist nicht verfügbar, die Gesamtdokumentation lückenhaft – was im Vertretungsfall, in dem niemand an die Mail gelangen kann beziehungsweise von deren Existenz keine Kenntnis hat, gravierende Folgen zeitigen kann. Und schließlich kann eine gelöschte Mail niemals zu Archivgut werden. Die rückschauend erfolgende Nachvollziehbarkeit von Verwaltungshandeln im demokratischen Rechtsstaat durch Forschung im Archiv wird unmöglich. Vor dem Hintergrund, dass aktenrelevante Unterlagen wie E-Mails, Messenger-Informationen oder auf dem Laufwerk schlummernde Dokumente mit entscheidungsrelevanten Inhalten allzu oft nicht im vorgesehenen Wissens- und Informationssystem Akte abgelegt werden, muss nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass auch diese Unterlagen der gesetzlichen Anbietungspflicht unterliegen. Zuletzt sind Thiels Ausführungen zum Datenschutz zu differenzieren: Während viele Landesarchivgesetze Archivierung als „Löschungssurrogat“ kennen, fehlt eine entsprechende Regelung im Bundesarchivgesetz. Der Begriff steht dafür, dass ausdrücklich auch personenbezogene beziehungsweise mit Löschvorschriften versehene Unterlagen dem zuständigen Archiv angeboten werden müssen – und zuvor keinesfalls gelöscht werden dürfen. Die Archivierung tritt in diesen Fällen völlig rechtskonform an die Stelle der Löschung, bildet also das „Surrogat“, den „Lösch­ersatz“. Auch nach der Archivierung unterliegt das Schriftgut Regelungen und gegebenenfalls Restriktionen bezüglich der Nutzung. Archivrecht versteht sich immer auch als bereichsspezifisches Datenschutzrecht. Insofern hat der Gesetzgeber hier sehr wohl die von Thiel angesprochenen Aspekte von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten im Blick. Eine rechtskonforme Dokumentation behördlicher Aufgabenwahrnehmung und die Anbietung sämtlicher aufgabenbezogener Unterlagen an das ­zuständige Archiv sind nicht nur rechtskonform, sondern alternativlos.“

  2. Ich habe die Debatte schon auf Linkedin gesehen, mich da aber zurückgehalten. Ich bin ehrlich gesagt entsetzt, dass Brautmeier als promovierter Historiker mit Honorarprofessur so einen Unsinn von sich gibt und dabei offensichtlich absolut keine Ahnung hat, wie Archive arbeiten, wie Archive an ihre Archivalien kommen und welche Rolle Archive in einer demokratischen Gesellschaft haben. Man fragt sich, wie er an die Quellen für seine Promotion gekommen ist. Und dass er Prof. Henne als „Archivrechtler“ in Anführungszeichen bezeichnet, ist eine Respektlosigkeit sondergleichen.

    • Danke für den Kommentar! Die robuste Diskussion hat zumindestens dazu geführt, dass Brautmeier die juristischen Aspekte der Diskussion vollumfänglich anerkennen musste. Das Unwissen, was Archivarinnen und Archivare so tun, ist nicht ungewöhnlich – übrigens ebenso, wie wenig respektvoller Umgang im Netz.

    • Na, da hat sich aber etwas angestaut. Wir müssen ja nicht persönlich werden!
      Natürlich gilt das Gesetz, aber es geht dabei doch um die Archivwürdigkeit bzw. die historische Relevanz. Und da hat jeder, der einen Vorgang bearbeitet, eine Verantwortung, die man ihm nicht abnehmen kann. Also: Vertrauen ist gut! Direkt mit Strafandrohung ein Bewusstsein zu schaffen oder erwas durchsetzen zu wollen, wäre nicht mein Mittel der Wahl. Information und Aufklärung schon.

      • Danke für den Kommentar! „Information und Aufklärung“ ist nichs anderes als Behördenberatung, die geschieht durch viele Archive bereits. Bleibt also die Frage: Was passiert bei der dem Archivgesetz entgegenstehenden Löschung von aktenrelevanten und somit potentiell archivwürdigen Chats, etc. ….? Schulterzucken und Resignation?

  3. Pingback: Hörtipp: „Gefährdetes Gedächtnis? Archive zwischen Digitalisierung, KI und Krieg“ (WDR 5, 2025) | siwiarchiv.de

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