Siegen: Stellungnahme des Arbeitskreises „Aufarbeitung der historischen Hintergründe von Straßennamen“

zu Adolf-Wagner-Straße, Diemstraße, Porschestraße und Graf-Luckner-Straße.
Vorlage 1285/2023 für die Sitzung des Rates am 22. März 2023:

Stellungnahme des Arbeitskreises zur Historischen Aufarbeitung von Straßennamen im Auftrag des Rates der Stadt Siegen
Der Arbeitskreis zur Historischen Aufarbeitung von Straßennamen hat auf Aufforderung des
Rates erneut über die Persönlichkeiten von Carl Diem, Ferdinand Porsche, Adolf Wagner und Graf Luckner beraten. Nach weitestgehend einmütiger Diskussion und Beschlussfassung empfiehlt der Arbeitskreis

– abweichend zur bisherigen Position die Person Adolf Wagners betreffend, diesen in Kategorie B einzuordnen, bis künftige Forschungen eine Neubewertung zulassen. Die Person Adolf Wagner ist, anders als andere diskutierte Persönlichkeiten durch seine Tätigkeiten in der antisemitischen Bewegung des späten 19. Jahrhunderts belastet.
Der Arbeitskreis hat Wagner ursprünglich in die Kategorie A eingestuft. Diese Einstufung ist zwar nach wie vor gerechtfertigt. Der Arbeitskreis hat sich aber aus folgendem Gesichtspunkt heraus für die vorläufige Rückstufung Wagners in die Kategorie B ausgesprochen: Wagners Rolle in der antisemitischen Bewegung ist nicht ausreichend erforscht. Insofern musste der AK entscheiden, dass die Umbenennungsentscheidung zurückgestellt werden muss, bis eindeutiger belastende Forschungen vorliegen, die eine Umbenennung ggf. unbedingt erforderlich machen. Insofern ist die Einstufung in die Kategorie B nur als vorläufig zu betrachten.
– dass Carl Diem in der Kategorie A verbleibt und rät weiter zur Umbenennung der ihm gewidmeten Straße. Wer als Sportfunktionär Jugendliche – hier Hitler-Jungen – in der Endphase des Krieges zu einem „Opfergang für den Führer“ aufgefordert hat, in dessen Folge einige hundert Jugendliche getötet wurden, sollte sich für eine Umbenennung hinreichend qualifiziert haben.
Insofern kann nicht aus anderen, zum Beispiel sportpolitischen Gründen von einer Umbenennungsempfehlung abgewichen werden. Im Übrigen verweist der Arbeitskreis auf seine ursprünglich abgegebene, hinlänglich begründete Stellungnahme.
– dass die nach Ferdinand Porsche benannte Straße umbenannt wird. Porsche war einer der Hauptprofiteure des NS-Staates. Für die Zwangsarbeit in seinen Werken nutzte er Häftlinge aus mehrere Konzentrationslagern aus. Dass in diesen Lagern auch viele Kinder von Zwangsarbeitern starben, war ihm bekannt. Ferdinand-Porsche-Straßen wurden bisher in einigen deutschen Städten umbenannt, so in Bad Kreuznach und Düsseldorf. Eine Historiker-Kommission hat der Stadt Düsseldorf die Umbenennung der nach dem Autokonstrukteur Ferdinand Porsche (1875-1951) benannten Straße im Stadtteil Flingern-Nord empfohlen. Porsche sei von „Hitlers Lieblingskonstrukteur“ zum „Wehrwirtschaftsführer“ aufgestiegen. Das NSDAP-Mitglied sei für seine Verdienste um die Kriegsindustrie zum „SS-Oberführer ehrenhalber“ ernannt worden.
Unter seiner Leitung seien zeitweise 70 Prozent der VW-Stammbelegschaft Zwangsarbeiter, KZ-Insassen und Kriegsgefangene gewesen, die er zum Teil selbst angefordert habe1. In dem Gutachten heißt es wörtlich:
„Obwohl sich die Arbeit am fabrikationsreifen Prototypen des sogenannten
„Kraft-durch-Freude-Wagens“ erheblich verzögerte, nutzte der Ingenieur „die
Protektion des Reichskanzlers als politischen Schutzschild“ (Pyta, S. 173f.), um
sein Unternehmen und insbesondere sich selbst als unangreifbare Größe in der
NS-Wirtschaft zu etablieren. Mit dem „Volkswagen-Vertrag“ von 1937 erhielt
Porsche schließlich das Entwicklungsmonopol und wurde mit der Planung des
VW-Werks in Fallersleben (heute Wolfsburg) betraut; zeitgleich ließ er auf dem
Gelände seines Konstruktionsbüros in Stuttgart-Zuffenhausen eigene
Produktionsanlagen errichten. Nachdem Ferdinand Porsche bereits 1934 auf
Drängen Hitlers seine tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zugunsten der
deutschen aufgegeben hatte, trat er in die NSDAP ein und wurde zum
„Wehrwirtschaftsführer“ ernannt. Obwohl der Konstrukteur das antisemitische
und rassistische Weltbild der Nationalsozialisten nach bisherigen Erkenntnissen
nicht teilte, nutzte er jede sich ihm bietende Entfaltungsmöglichkeit, „ohne sich
an den politischen Rahmenbedingungen zu stoßen“ (Mommsen/Grieger, S. 91).
Als die Produktion des Volkswagens bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
eingestellt werden musste, organisierte er als Hauptgeschäftsführer und
Aufsichtsratsmitglied der Volkswagen GmbH den Ausbau des Unternehmens
zum Rüstungsbetrieb. Unter seiner Leitung wurden ab 1940 tausende
Zwangsarbeiter eingesetzt, darunter Kriegsgefangene und KZ-Insassen, die
zwischenzeitlich mehr als 70% der Stammbelegschaft ausmachten. Diese waren
in eigens für VW eingerichteten Lagern (KZ „Arbeitsdorf“, KZ-Außenlager
Laagberg) untergebracht und teilweise von Ferdinand Porsche persönlich
angefordert worden. Bis 1945 kamen neben zahlreichen Zwangsarbeitern auch
mehr als 300 Kleinkinder der firmeneigenen „Ausländerkinder-Pflegestätte“ in
Rühen ums Leben2.
Ferdinand Porsche erfüllt als Profiteur des NS-Regimes die vom Arbeitskreis erstellten und vom Rat akzeptierten Kriterien für eine Umbenennung (Kategorie A). Insofern kann nicht aus anderen Gründen von einer Umbenennungsempfehlung abgewichen werden. Im Übrigen verweist der Arbeitskreis auf seine ursprünglich abgegebene, hinlänglich begründete Stellungnahme.
– Der Arbeitskreis zur Historischen Aufarbeitung von Straßennamen empfiehlt einstimmig die nach Felix Graf Luckner benannte Straße umzubenennen.
In einem Gutachten einer im Jahr 2020 von der Stadt Düsseldorf beauftragten Historikerkommission heißt es zum Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Graf Luckner:
„Der Vorsitzende des Sonderehrengerichts, Dr. Rudolf Lehmann, schlug auf Grund dieser Situation vor, dass als „Grundlage für die weiteren Entschließungen des Führers“ vielleicht auch ein Bericht genüge, da „der Tatbestand (des sexuellen Missbrauchs (R.H.) auf Grund des glaubhaften Geständnisses des Grafen Luckner in allen wesentlichen Punkten einwandfrei feststehe“.
Lammers3 war mit diesem Vorschlag einverstanden. Lehmann legte Lammers daraufhin am 19. Dezember 1939 seinen endgültigen Abschlußbericht vor. In einem vorangestellten Fazit der Untersuchungen stellte Lehmann fest: „In den entscheidenden Punkten hat Graf von Luckner die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen zugeben müssen. Die Glaubwürdigkeit seines eigenen Geständnisses wird durch die Aussagen der Zeugen und durch andere Beweismittel erhärtet. Das Ermittlungsergebnis ermöglicht daher ein Urteil über sein Verhalten und seine Persönlichkeit, ohne daß es weiterer Untersuchungen bedürfte, wie sie in einem Strafverfahren wahrscheinlich notwendig wären. Von einer Aufklärung der Vorwürfe, die sich auf das Verhalten des Grafen von Luckner während seiner letzten Weltreise beziehen, hat der Untersuchungsführer im Einvernehmen mit mir abgesehen. Eine erschöpfende Aufklärung dieser Vorgänge würde umfassende Zeugenvernehmungen notwendig machen. Die Ermittlungen müßten zum erheblichen Teil im Ausland erfolgen. Ob es gelingen würde, unter normalen Verhältnissen ein zutreffendes Bild der Vorgänge zu gewinnen, steht dahin; sicher ist, daß unter den gegenwärtigen
Umständen diese Ermittlungen nicht durchgeführt werden können.“ Lammers, der wie Lehmann die Vorwürfe gegen Luckner hinsichtlich dessen „unwürdigen und nicht nationalsozialistischen Verhaltens“ während der Weltreise auf sich beruhen lassen wollte, schlug am 25. Januar 1940 in einem Schreiben an Himmler diesem vor, dass nach den Ergebnissen im Abschlußbericht auch jetzt kein Anlass bestehe, „dem Führer nahezulegen, dem Strafverfahren nunmehr doch Raum zu geben4.“
Insofern obliegt es natürlich dem Rat, eine politische Entscheidung über eine Umbenennung der Graf-Luckner-Straße zu treffen, was angesichts der ambivalenten Person Luckner eine differenzierte Betrachtung nötig macht. Der zwar vermutlich auf Weisung Hitlers nicht staatsanwaltlich verfolgte Missbrauch gilt jedoch als erwiesen und ohne Druck oder Verfälschung von Zeugenaussagen zustande gekommen. Auch das Geständnis, das Kind mehrfach missbraucht zu haben, wurde nach Meinung der Gutachter nicht durch Druck erpresst.
Die politische Belastung des Grafen Luckner allein führt nach Ansicht des Arbeitskreises noch nicht zwingend zu einer Einstufung in die Kategorie A. Allein die offenkundige und belegte strafrechtliche Belastung des Grafen Luckner macht es für den Arbeitskreis zwingend notwendig, die Empfehlung für die Straßenbenennung auszusprechen.
Der Arbeitskreis ist auch grundsätzlich der Meinung, dass die in der Oktober-Sitzung akzeptierte und in anderen Städten ähnlich praktizierte Kategorisierung ein sinnvolles Instrument ist, um Persönlichkeiten angemessen zu bewerten. Von diesem Kategorisierungssystem sollte man dann auch nicht ohne Not abweichen.
…“

1 FAZ 23.1.2020, abgerufen am 24.1. 2023
2 https://www.duesseldorf.de/fileadmin/Amt41-203/stadtarchiv/aktuell/200123Abschlussbericht_Strassennamen.pdf, abgerufen zuletzt am 24.1. 2023
3 Heinrich Lammers, Leiter der Reichskanzlei
4 https://www.duesseldorf.de/fileadmin/Amt41-203/stadtarchiv/aktuell/200123Abschlussbericht_Strassennamen.pdf, abgerufen zuletzt am 24.1. 2023
Alexander Sperk / Daniel Bohse: Gutachten zur Einschätzung der Person Felix Graf von Luckner (1881–1966) hinsichtlich Straßenbenennung in der Stadt Halle (Saale), Halle (saale) 2005, [S. 34-35], Link: https://m.halle.de/VeroeffentlichungenBinaries/527/519/luckner-gutachten_12052011.pdf [Anm.: s. Kommentare]

9 Gedanken zu „Siegen: Stellungnahme des Arbeitskreises „Aufarbeitung der historischen Hintergründe von Straßennamen“

  1. Es geht also weiter im Thema Straßenumbenennung in Siegen. Die Biografien zu verschiedenen Personen sind präzisiert (z.B. Porsche) oder erstmals (z.B. von Luckner) vorgelegt worden. Zu Porsche wie zu Luckner wird auf das Gutachten der Düsseldorfer Kommission durch einen Link Bezug genommen. Dazu eine Frage: Wie kann sich die Siegener Kommission auf das Düsseldorfer Gutachten beziehen, wenn Luckner in diesem Gutachten gar nicht erwähnt wird. Da scheint in der Belegführung etwas durcheinander geraten zu sein. Lässt sich das schnell nachbessern?

  2. In der heutigen Sitzung sprachen sich die Vertreter von AfD und CDU für die Beibehaltung der nach Ferdinand Porsche und Carl Diem benannten Straßen aus. SPD, FDP und Volt folgten der Stellungnahme des Arbeitskreises. Die CDU-Fraktion beantragte die Graf-Luckner-Str. in Edith-Langner-Str. umzubenennen. Eine Aussprache erfolgte nicht.
    Die Einordnung von Adolf Wagner in Kategorie B erfolgte mehrheitlich bei 9 Enthaltungen, ebenso wie die Umbenennung der Diem- und Porschestr. Überraschenderweise erfolgte ebenfalls mehrheitlich die Umbenennung der Graf-Luckner-Str. in Edith-Langner-Str., ohne den eigentlich zuständigen Kulturausschuss zu beteiligen bzw. ohne Expertise des Arbeitskreises.

  3. Die Westfälische Rundschau berichtet heute nicht hinter der Bezahlschranke online und auch auf FB:

    Der Artikel „Graf Luckner kommt vom Straßenschild“ in der heutigen Siegener Zeitung ist leider nicht online abrufbar.

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