Edith Langner, die „Nazi-Ideologin“(?), oder:

Geschichte als Waffe in der Diskussion um die Umbenennung einer Straße. Ein Kommentar von Thomas Wolf

Behauptungen versus Fakten
Am 26. September 2023 erschien ein Leserbrief in der lokalen Presse, der feststellte, dass Anwohnende der umbenannten Straße die NSDAP-Angehörigkeit Edith Langners „herausgefunden“ hätten. Eine Mitgliedschaft Langners in der NSDAP ist allerdings darin nicht nachvollziehbar belegt worden. Als Beleg für die Feststellung diente lediglich das Vorhandensein zweier Entnazifizierungsbögen; dies geht aus internen Korrespondenzen hervor, in die der Autor Einblick hatte.
Dem steht die Auskunft des Berliner Document Centers (BDC) aus dem Jahr 1973 entgegen, die im Rahmen des Verfahrens zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an die nordrhein-westfälische Landespolitikerin routinemäßig eingeholt wurde: Es wurde damals keine Mitgliedschaft Langners nachgewiesen. Die Entnazifizierungsbögen geben lediglich an, dass das Verfahren wegen der Berufung Langners in ein politisches Gremium, gemeint ist der Flüchtlingsausschuss des Rates der Stadt Siegen, in Gang gesetzt wurde.
Zwei Tage später erschien ein weiterer Leserbrief, der behauptete, dass Edith Langner der NS-Frauenschaft angehörte. Zwei Tage vorher wurde in einer internen Korrespondenz, die dem Autoren vorliegt, behauptet, dass „ …[d]iese sowohl 1933 deutschnational gewählt habe als auch war sie in der NS-Frauenschaft aktiv. Sie hat von der NS-Frauenschaft Gelder kassiert und so direkt vom NS-System profitiert. ….“. Laut Selbstauskunft Langners im erwähnten Entnazifizierungsverfahren hat sie in der März-Wahl 1933 tatsächlich deutschnational gewählt und gehörte aber seit Sommer 1944 dem Deutschen Frauenwerk (!) an. Aus der oben bereits erwähnten Auskunft des BDC geht hervor, dass aus dessen Unterlagen eine Mitgliedschaft Langners in der NS-Frauenschaft nicht nachweisbar ist. Die Vermutung, dass Langner von der Frauenorganisation finanziell unterstützt wurde, erfolgte ohne nachvollziehbare Belege.
Aus der Mitgliedschaft im Deutschen Frauenwerk wurde im erwähnten Leserbrief folgender Schluss gezogen, „…. [i]m Jahr 1944 war sie dieser Naziorganisation beigetreten, als ein großer Teil der deutschen Bevölkerung schon wusste, was für ein brutales und menschenverachtendes System die Naziherrschaft war. Jetzt den Namen dieser Frau an unsere Straße zu heften halten wir für eine Beleidigung.“ Diese Aussage soll offensichtlich evozieren, dass es sich bei Langner um eine besonders fanatische Anhängerin des NS-Systems gehandelt habe. Dies ist eine mögliche Interpretation des späten Beitritts in eine vom NS-Regime gleichgeschaltete bürgerlich-konservative Frauenvereinigung.
Ein Blick in die von siwiarchiv am 10. Mai 2023 veröffentlichen biographischen Angaben über Edith Langner erlaubt neben ideologischer Verblendung eine weitere Interpretation des Eintritts in das Deutsche Frauenwerk. Seit dem späten Frühling 1944 galt Langners Ehemann als an der Front vermisst, womöglich war der Eintritt eine Schutzreaktion auf diesen Verlust. Weitere biographische Quellen belegen dazu, dass Edith Langner nie ihren Ehemann für tot hat erklären lassen, obwohl er aus dem Zweiten Weltkrieg nicht heimkehrte. Diese Entscheidung brachte ihr reale, finanzielle Nachteile, da ihr eine zustehende Witwenversorgung aus diesem Grund verwehrt blieb, und sie kann als Beleg für eine enge Beziehung zwischen den Eheleuten ausgelegt werden, die den traumatischen Verlust und deine erhöhte Schutzbedürftigkeit in Kriegszeiten erklären mag.
Schließlich ist es fraglich, inwieweit sich Langner an die Aktivitäten des Deutschen Frauenwerks beteiligen konnte, denn seit Anfang 1945 befand sie sich mit ihren beiden Söhnen und ihren Schwiegereltern auf der Flucht.

„Höchste Ansprüche“ nur an Edith Langner?
Im Mai 2022 hatte der Arbeitskreis „Aufarbeitung der historischen Hintergründe von Straßennamen“ des Rates der Stadt Siegen seinen Abschlussbericht neben den Einschätzungen zu einzelnen Namensgebern von Straßen findet sich darin auch die Dokumentation der Vorgehensweise des Gremiums, die Kategorisierung der Namensgeber. Aus zweierlei Gründen ist hier die Kategorie C besonders interessant:
„ …. Als unbelastet oder nur minderschwer belastet wurden in die Kategorie C eingestuft:
Adolf‐Wurmbachstraße, Freystraße, Hermann‐Böttger‐Weg, Virchowstraße, Gorch‐Fock‐Straße, Graf‐Luckner‐Straße, Hermann‐Löns‐Weg, Paul‐Bonatz‐Straße, Walter‐Flex‐Straße, Gerhart‐Hauptmann‐Weg.
In diesen Fällen besteht kein Handlungsbedarf. Die Straßennamen können beibehalten werden und eine Kommentierung ist aus Sicht des Arbeitskreises nicht erforderlich. ….“
Zu einem wurde hier Felix Graf von Luckner hier zunächst als unbelastet eingestuft, wie wohl die Vorwürfe gegen ihn seit der Vorlage des ausführlichen Gutachtens der Stadt Halle an der Saale aus dem Jahr 2007 bekannt waren. Erst nach der Kritik dieser Einschätzung eines Regionalhistorikers im Mai 2022 gelangte die Umbenennung der Straße in den politischen Raum. Zum anderen finden sich in der Auflistung dieser Gruppe zwei lokale Persönlichkeiten (Adolf Wurmbach, Hermann Böttger), die länger als Edith Langner einer NS-Organisation angehörten. Eine Reaktion der Anwohnenden der Graf-Luckner-Straße sowohl zur Vorgehensweise als auch zur Einordnung von Felix Graf von Luckner oder zur Einordnung der beiden anderen Männer erfolgte zu mindestens nicht öffentlich. Dieses Verhalten steht für den Autoren im Widerspruch zu den Ansprüchen, die an Edith Langner gestellt werden, wenn man schon die Benennung einer Straße nach ihr als „Beleidigung“ empfindet. Die Schlüsse mögen die Lesenden ziehen.

Fiel die Umbenennung der Graf-Luckner Straße quasi aus dem Himmel?
Nicht nur das Gutachten der Stadt Halle (2007) oder die Kritik aus dem Mai 2022 (s. o.) weist auf den Kindesmissbrauchs Felix Graf von Luckners hin. Bereits ein Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1998 erwähnt es.
Auch der 2008 eingerichtete Arbeitskreis „Aufarbeitung historischer Straßenbezeichnungen“ des Siegener Stadtrates hatte sich mit Graf von Luckner beschäftigt. Leider flossen dessen Arbeitsergebnisse nur in die Ausstellung „Straßennamen in Siegen“ der Namensberatung der Universität Siegen am Lehrstuhl Germanistik/Linguistik ein, die als Kooperation mit Kultur Siegen und Stadtarchiv Siegen“ vom 6. Oktober bis 6. November 2011 im Siegener KrönchenCenter gezeigt wurde.
Eine nennenswerte Diskussion oder gar ein Umbenennungsbitte der Bewohner:innen der Graf-Luckner-Straße, denen es nun „unerträglich“ erscheint, in einer nach Edith Langner benannten Straße, ist bis in das Frühjahr 2023 nicht dokumentiert.

Exkurs: Umwidmung
Die ins Spiel gebrachte, pragmatische Lösung die Graf-Luckner-Straße nach Nikolaus Graf von Luckner umzuwidmen, um so eine Umbenennung zu umgehen, wirft Fragen auf: will man wirklich einen Söldner ehren, der seine kriegerischen Dienste an den Meistbietenden verkaufte, der während der französischen Revolution als ausländischer Adliger so unklug war, zur Einforderung seiner Pension von Straßburg nach Paris zu gehen, nur um dann dort den Tod zu finden?

Fazit:
Geschichte kann nur dann als „Waffe“ dienen, kann nur dann in der erinnerungskulturellen Diskussion helfen, wenn sie nicht oberflächlich eingesetzt wird. Im konkreten Fall konterkariert sie sogar m. E. das verständliche Anliegen der Anwohnerinnen und Anwohner, eine Gleichbehandlung mit den übrigen Bewohnerinnen und Bewohner der aktuell umbenannten Straßen zu erreichen. Indem der Rat der Stadt Siegen die Umbenennungsentscheidung unmittelbar fällte – was ihm durchaus zusteht -, verhinderte er eine gründliche Beschäftigung des aktuellen „Straßennamenarbeitskreis“ mit Edith Langner bzw. Nikolaus Graf von Luckner sowie eine in dessen Abschlussbericht empfohlene Bürgerbeteiligung und schließlich die politische Diskussion in den einschlägigen Ausschüssen (Kultur, Bezirksausschuss). Dies kann man mit Fug und Recht kritisieren.
Die nicht belegten oder gar falschen historischen Aussagen über Edith Langner, die massiv eingeforderten, höchsten moralischen Ansprüche an die Vergabe von Straßennamen, die jedoch erst dann formuliert wurden, als man persönlich betroffen war, und die Duldung des alten Straßennamens, obwohl die Taten des Straßenpatronen seit mehr 25 Jahren bekannt waren, machen es mir unmöglich, diesem geschichtlichen Teil der Argumentation der Anwohner:innen auch nur annähernd zu folgen.

Linkliste:

Edith Langner:
archivar: „Edith Langner (1913 – 1986) – eine Kandidatin für eine Strassenbenennung in Siegen“, Weblog siwiarchiv v. 27. Juni 2022, Link: https://www.siwiarchiv.de/edith-langner-eine-kandidatin-fuer-eine-strassenbenennung-in-siegen/ (Aufruf: 16.10.2023)

Felix Graf Luckner:
„Felix der Lügner“, in: Spiegel, 13/1998 v. 22. März 1998, Link: https://www.spiegel.de/politik/felix-der-luegner-a-85c9e22a-0002-0001-0000-000007284910
Seite „Felix Graf von Luckner“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 6. Oktober 2023, 05:36 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Felix_Graf_von_Luckner (Aufruf: 15.10.2023)

Nikolaus Graf Luckner:
Seite „Nikolaus von Luckner“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 6. Oktober 2023, 05:37 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_von_Luckner (Aaufruf: 15.10.2023)
Artikel „Luckner, Nikolaus Graf v.“ von Bernhard von Poten in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 19 (1884), S. 359–361, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Luckner,_Nikolaus_Graf_von (Aufruf: 1510.2023)

Abschlussbericht des Arbeitskreises „Aufarbeitung der historischen Hintergründe von Straßennamen des Rates der Stadt Siegen“ v. Mai 2023:
Link: https://sitzungsdienst.kdz-ws.net/gkz090/sdnetrim/UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZYwkIxHc9m9j1LWY6AznOyndoBS9w_5MTK0iUhZ0vTFB/Abschlussbericht_AK_Strassennamen.pdf (Aufruf: 15.10.2023)
„Umbenennung von Straßennamen“, Eintrag im Blog der Geschichtswerkstatt Siegen, v. 11. Februar 2022, Link: https://geschichtswerkstatt-siegen.de/2022/02/11/umbenennung-von-strassennamen/ (Aufruf: 16.10.2023)

Adolf Wurmbach:
archivar: „Vorarbeiten für eine noch zu schreibende Biographie Adolf Wurmbachs“, Weblog siwiarchiv vom 10. August 2014, Link: https://www.siwiarchiv.de/vorarbeiten-fuer-eine-noch-zu-schreibende-biographie-adolf-wurmbachs/ (Aufruf: 15.10.2013)

Hermann Böttger:
archivar: „Hermann Böttger (1884 – 1957) – Gymnasiallehrer, Vorgeschichtler, Flurnamen- und Siedlungsforscher“, Weblog siwiarchiv vom 4. Oktober 2022, Link:https://www.siwiarchiv.de/hermann-boettger-1884-1957-gymnasiallehrer-vorgeschichtler-flurnamen-und-siedlungsforscher/ (Aufruf: 15.10.2013)

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