Kreis Marburg-Biedenkopf arbeitet eigene Nazi-Vergangenheit weiter auf

Historiker erstellt umfangreiche Studie über die NS-Belastung der politischen Führungskräfte der Landkreise Marburg und Biedenkopf. Im Auftrag des Landkreises Marburg-Biedenkopf hat der Historiker Marcel Spannenberger eine Studie zur NS-Belastung der Führungsspitzen der Landratsämter Marburg und Biedenkopf während der Nazi-Zeit vorgelegt. Auf knapp 200 Seiten fasst er seine Recherchen zu den führenden Akteuren zusammen. Dabei zeigt sich, dass das politische Führungspersonal in hohem Maß am Verfolgungsterror des Regimes beteiligt war. Mit dieser Studie leistet der Kreis einen weiteren wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Region.

„Für den Landkreis ist es wichtig, möglichst viel Licht und Transparenz in der Aufarbeitung dieser dunklen Zeit in den Altkreisen Biedenkopf und Marburg zu erzeugen“, betonte der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow bei der Vorstellung der Studie im Marburger Landratsamt. Gleichzeitig sei es beschämend, auf dieses schlimme Kapitel der Kreisverwaltung zurückzuschauen. Umso wertvoller sei diese Arbeit, die dazu beiträgt, das verbrecherische Wirken des Nationalsozialismus auch in der Region bewusst zu machen und wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten. „Marcel Spannenberger hat sich dieser Aufgabe sehr intensiv und gründlich angenommen. Die nun vorliegende Studie ergänzt die bereits vorhandene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ehemaliger politischer Funktionsträger im Landkreis Marburg-Biedenkopf nach dem Zweiten Weltkrieg, die Prof. Dr. Hubert Kleinert im Jahr 2013 erstellt hatte“, erläuterte Zachow.

Als ein besonders auffälliges Beispiel ist in der aktuellen Studie Hans Krawielitzki (1900 bis 1992), der mächtigste politische Akteur im Marburger Landratsamt, in der Studie erwähnt: Er löste 1934 den konservativen Verwaltungsjuristen Ernst Schwebel als Landrat ab und blieb es bis 1945. Er galt als „alter Kämpfer“, weil er schon 1927 in die NSDAP eingetreten war, hatte ein Gespür für Propaganda und ein Talent für bürokratische Organisation. Schon 1920 hatte er sich als Freiwilliger des Marburger Studentenbataillons an der Niederwerfung des kommunistischen Aufstands in Thüringen beteiligt. Spätestens ab 1928, als er ohne Hochschulabschluss nach acht Jahren Studium exmatrikuliert wurde, widmete er sich der Partei in Vollzeit.

Marcel Spannenberger, der mit der Studie zugleich seine von Prof. Dr. Eckhart Conze betreute Masterarbeit vorlegte, beschreibt Krawielitzki als sehr gut vernetzten Politiker, der nahezu alle NS-Größen für Wahlkampfauftritte nach Marburg holte. So sprach Adolf Hitler an seinem Geburtstag am 20. April 1932 in der Universitätsstadt. 1933 zog Krawielitzki für die NSDAP in den Stadtverordnetenversammlung ein, war von 1934 bis 1945 Ratsherr und ab November 1933 Reichstagsmitglied.

Höhepunkt seines Lebenslaufs war jedoch die Ernennung zum Landrat. Aufgrund seiner Verdienste für die Partei war er im Gegensatz zu seinem Vorgänger nahezu unangreifbar. Zudem verstand er sich als „ein dezidiert nationalsozialistischer Landrat“, wie Spannenberger schreibt. So gelobte Krawielitzki bei seiner offiziellen Amtseinführung: „Wenn ich als Nationalsozialist diesen Kreis verwalten werde, so soll zu jeder Zeit der Wille des Führers erfüllt werden.“ Wiederholt ging er gemeinsam mit seinem Führungspersonal gegen Menschen vor, die „kommunistischer Umtriebe“ oder einer politisch nonkonformen Haltung verdächtigt wurden. Nur im „Kirchenkampf“ vertrat er als Pfarrerssohn eine relativ gemäßigt Linie.

Eine zentrale Rolle spielte auch das Führungspersonal um Krawielitzki bei der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Der Landrat forcierte die „Arisierung“ jüdischen Grundbesitzes. Zur ersten Deportation aus dem Kreis am 8. Dezember 1941 ist eine vertrauliche Verfügung an den Bürgermeister von Kirchhain von Krawielitzkis Stellvertreter Ludwig Seufer überliefert. Danach sollten alle Juden der Gemeinde namentlich angegeben werden: „Die Kinder, die dort noch wohnhaft sind, dürfen unter keinen Umständen vergessen werden“, heißt es darin. Das Ziel: Verlässliche Zahlen zur Weitergabe an die Gestapo. Zugleich sorgte er zusammen mit den Bürgermeistern für den reibungslosen Ablauf. So seien die zurückgelassenen Vermögenswerte der Deportierten sicherzustellen und die Wohnungsschlüssel in Verwahrung zu nehmen. Weiter hieß es, dass bei der polizeilichen Abmeldung in den Melderegistern „nicht der Zielort, sondern lediglich ‚unbekannt verzogen‘ anzuführen“ sei.

Am 3. August 1943 berichtete Krawielitzki, dass die Gemeinden Schweinsberg und Mardorf jetzt auch „judenfrei“ seien. Die Judenfamilien aus diesen Gemeinden seien nun gemeinsam in Rauischholzhausen untergebracht, wodurch man die Juden besser kontrollieren könne. Auch bei der dritten Deportation am 6. September 1942 gab es detaillierte Handlungsanweisungen, etwa für bettlägerige Juden, die mit einem geeigneten Fahrzeug an die Bahn gebracht werden sollten: „Die Kosten hierfür tragen die Juden“, so das Landratsamt.

Bei ihrem Vorgehen habe die Kreisverwaltung nicht den Eindruck vermittelt, „zur Deportation infrage kommende Personen zurückgehalten zu haben“, urteilt Autor Spannenberger: „Vielmehr scheint sie hier eine penible Gründlichkeit an den Tag gelegt zu haben“, schreibt er nach der Untersuchung der Akten.

Der NS-Landrat Krawielitzki wurde übrigens 1948 zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ab dann blieb er politisch zurückhaltend, wenngleich er regelmäßig an Altnazi-Treffen in Cölbe teilnahm.

„Fast acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Herrschaft zeigt die Studie von Marcel Spannenberger, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus noch immer nicht umfassend aufgearbeitet sind, ja dass jede Generation neue Fragen an die Geschichte und Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus stellt. Einen Schlussstrich kann es nicht geben“, betonte Prof. Dr. Eckhart Conze. Mit Marcel Spannenberger sei ein junger Historiker für das Projekt gewonnen worden, der wichtige Ergebnisse zutage gefördert und die Entwicklungen in den Kreisen Marburg und Biedenkopf in breitere Zusammenhänge gestellt habe. „Damit leistet er auch einen Beitrag zur Geschichte von Kommunalpolitik und kommunaler Verwaltung in der NS-Zeit. Unser Wissen über die Geschichte und die Verbrechen des Nationalsozialismus auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Marburg-Biedenkopf wird dadurch erheblich erweitert“, stellte Prof. Conze fest.

Der Landkreis Marburg-Biedenkopf als Auftraggeber für diese Studie unterstützte die wissenschaftliche Aufarbeitung als Ansprechpartner, stellte Literaturlisten, zeitgenössische Materialien und Informationen zur Verfügung, vermittelte Kontakte zu Personen, Archiven und Institutionen und sorgt für die Veröffentlichung der Studie im Internet.

Die vollständige Studie mit dem Titel „Das Führungspersonal der Landratsämter Marburg und Biedenkopf in der NS-Zeit“ ist ab sofort online unter www.marburg-biedenkopf.de zu lesen. Sie befindet sich unter den Menüpunkten „Kultur“ und dann unter „Geschichte“. Dort ist auch die erwähnte Studie von Prof. Dr. Hubert Kleinert zu finden. Auch ist es der unermüdlichen Erinnerungsarbeit des Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) in  Stadtallendorf zu verdanken, dass die aktuelle Studie angefertigt wurde. Das DIZ hatte darauf aufmerksam gemacht, dass das Wirken des nationalsozialistischen Landrates Krawielitzki bisher nur punktuell erforscht worden sei. Dies haben die verstorbene Landrätin Kirsten Fründt und der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow seinerzeit zum Anlass genommen, sich mit Professor Conze um eine Untersuchung zu bemühen.

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