Stellungnahme des VdA zum Koalitionsvertrag der Bundesregierung

Offener Brief an den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, die Vorsitzenden der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und den den Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion
Stellungnahme des VdA zum Koalitionsvertrag der Bundesregierung:

„[I]m Koalitionsvertrag wird dem Archivwesen eine gewichtige Rolle beigemessen. Der VdA begrüßt dies ausdrücklich, da authentische Informationen in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung
gewinnen und damit die grundgesetzlich gebotene Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Regierungs- und Verwaltungshandeln gestärkt wird. Den Gestaltungswillen der Bundesregierung
sieht der Verband positiv, allerdings appellieren wir dazu, bei der Umsetzung fachliche Erfahrungen und Erfordernisse zu berücksichtigen. Der VdA nimmt aus archivfachlicher Sicht wie folgt Stellung:
Weiterentwicklung der Informationsfreiheitsgesetze zu einem Bundestransparenzgesetz
(S. 11): Eine kritische Prüfung der Informationsfreiheitsgesetze und eine Klärung des Verhältnisses zu den Archivgesetzen sind aus Sicht der Archive absolut wünschenswert. Wir können an dieser
Stelle unsere fachliche Unterstützung anbieten und sind für frühzeitige Beteiligung sehr dankbar.
Stärkung von Open Access und Open Science
(S. 24): Eine wirkliche Durchsetzung von Open Access setzt teilweise gravierende Änderungen unserer rechtlichen Grundlagen voraus (u.a. sind einige Gebührentatbestände immer noch extrem
nutzungshemmend). Problematisch sind die einseitige Betrachtung des im Koalitionsvertrages viel zu kurz kommenden Urheberrechts (Schutz vor unberechtigter Veröffentlichung) und die
Gleichsetzung von Archiven mit Bibliotheken. Damit wird man den Interessen der Archive, der NachlasserInnen und der NutzerInnen überhaupt nicht gerecht. Es wird pauschal von einer
kommerziellen Verwertbarkeit ausgegangen, die beim Archivgut anders als bei Büchern nicht gegeben ist. Durch die Nutzbarmachung ihrer Unterlagen werden NachlasserInnen als
UrheberInnen nicht geschädigt. Im Gegenteil: Sie profitieren von der dauerhaften Sicherung ihrer Unterlagen und von der Anerkennung und Würdigung ihrer Leistungen (oder der der Vorfahren)
bzw. ihres Lebenswerkes. Das Urheberrecht zwingt Archive aktuell aber immer wieder, aus archivrechtlicher Sicht legitime Nutzungsanliegen zu untersagen. Das betrifft auch die Anliegen
öffentlicher Stellen, beispielsweise wenn sie archivierte Bilder oder Filmausschnitte in ihren Social-Media-Kanälen verwenden möchten.
Weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes
(S.107): Es ist lobenswert, dass die Bundesregierung die weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes energisch und transparent vorantreiben möchte. Die Errichtung eines eigenen Archivs dafür ist aus
fachlicher Sicht jedoch nicht der richtige Weg. Unterlagen dürfen nicht aus ihren Entstehungszusammenhängen in unterschiedlichen Behörden gerissen und unter aktuellen Fragestellungen neu zusammengeführt werden. Schriftgut muss in seinem Entstehungszusammenhang belassen werden – nur so bleibt erkennbar, in welcher Verantwortung und zu welchem Zweck bestimmte Unterlagen entstanden sind (Provenienzprinzip). Die bestehende Archivpraxis garantiert schon heute, dass Anforderungen an Spezialfragen vollumfänglich erfüllt werden können. Dies trifft auch für die Überlieferung der jüngsten Zeitgeschichte zu. Es ist daher nicht nötig, neue Institutionen zu schaffen, um das Thema Terrorismus im Allgemeinen und Rechtsextremismus im Besonderen auf der Grundlage von
Archivalien aufzuarbeiten. Dieses Ziel kann auf andere Weise, z. B. durch ein Internetportal, in dem das Bundesarchiv und die Landesarchive einschlägiges Archivgut der jeweiligen Behörden
sichtbar machen, sowie entsprechende Forschungsaufträge erreicht werden.
Nachrichtendienste und Bundesarchivgesetz
(S. 110): Im Koalitionsvertrag wird angekündigt, das Sicherheitsrecht des Bundes, einschließlich der Übermittlungsvorschriften, zu reformieren, eine unabhängige Kontrollinstanz für Streitfragen
bei VS-Einstufungen zu schaffen und die archivrechtlichen Schutzfristen auf maximal 30 Jahre zu verkürzen. In diesem Zusammenhang erinnert der VdA daran, dass bei der Neufassung des
Bundesarchivgesetzes im Jahr 2017 (§ 6, Abs. 1) den Nachrichtendiensten selbst die Entscheidung eingeräumt worden ist, welche Unterlagen sie wann dem Bundesarchiv anbieten. Dieser
hochumstrittene Sonderweg muss dringend revidiert werden! Auch die Nachrichtendienste stehen nicht außerhalb des Rechtsstaates und sollten uneingeschränkt dem Bundesarchivgesetz
unterliegen. Zur Wahrung der berechtigten Interessen der MitarbeiterInnen und zum Quellen- und Methodenschutz reicht es nach Ansicht des VdA aus, entsprechende Abgabefristen festzulegen und
übliche archiv- und datenschutzrechtliche Grundsätze zu beachten.
Aufbau einer zentralen digitalen Themenplattform zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht
(S.110): Mit der Aufgabe des Aufbaus eines solchen Themenportals im Rahmen des Archivportals-D ist das Bundesarchiv betraut und arbeitet dabei eng mit dem Landesarchiv Baden-Württemberg und anderen Partnereinrichtungen zusammen. Dass die „Erinnerungskultur“ überhaupt so breiten Raum einnimmt, deckt sich sehr mit den Interessen der Archive, die sich einer lebendigen, offenen Erinnerungskultur verpflichtet sehen und dazu vielfältige Beiträge leisten.
Anerkennung der Opfer der „Euthanasiemorde“ und Zwangssterilisation
(S. 125): Die offizielle Anerkennung der Opfer der „Euthanasiemorde“ und der Zwangssterilisationen entspricht den Interessen der Archive. Durch die Nennung von Namen, Geburts- und Sterbedaten der Opfer ermöglichen die Archive ein würdiges Gedenken, verletzen aber keine schutzwürdigen Belange von Angehörigen.
Weiterentwicklung der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin zum Campus für Demokratie
(S.125): Die Einrichtung eines Archivzentrums zur SED-Diktatur und die Weiterentwicklung der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin zum Campus für Demokratie wird vom VdA begrüßt. Es ist wichtig, dass das Bundesarchiv in die Lage versetzt wird, ein Archivzentrum zur SED-Diktatur so zu gestalten, dass die dauerhafte fachgerechte Unterbringung der Stasi-Unterlegen ebenso gewährleistet ist wie der gesetzlich geregelte Zugang zu den Unterlagen und ein hohes Niveau des historischen Bildungsangebots.
Als Fachverband stehen wir der Bundesregierung gerne beratend zur Seite.“
Quelle: VdA, Aktuelles, 24.2.2022 via Archivalia

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