Landesregierung legt Studie zu Medikamentenmissbrauch an Kindern und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen vor

Sozialminister Laumann: Betroffene haben ein Recht auf Aufarbeitung

In Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der stationären Behindertenhilfe und Psychiatrien sowie in Heilstätten und Kurheimen in Nordrhein-Westfalen wurden Kindern und Jugendlichen über Jahrzehnte missbräuchlich Medikamente verabreicht – mit weitreichenden körperlichen und psychischen Folgen. Eine Studie im Auftrag des Landes gibt nun erstmals einen umfassenden Überblick über das Ausmaß des Missbrauchs und stellt die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt.

Der Untersuchungszeitraum umfasst die Zeitspanne von der Gründung des Landes im Jahr 1946 bis zum Jahr 1980. Die Studie wurde am Mittwoch, 10. September 2025, im Düsseldorfer Landtag vorgestellt. 

Sozialminister Karl-Josef Laumann: „Kinder und Jugendliche haben in stationären Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen Unfassbares erlitten. Es steht ihnen zu, dass diese Gräueltaten umfassend beleuchtet und aufgearbeitet werden sowie maximale Aufmerksamkeit bekommen. Die Studie zum Medikamentenmissbrauch der Forscher und Forscherinnen um Prof. Dr. Heiner Fangerau von der Universität Düsseldorf, der Universität Hildesheim und dem Deutschen Institut für Heimerziehungsforschung tut genau das: Sie führt das bisherige Wissen zusammen und stellt die wichtigste Perspektive, die der Betroffenen, in den Fokus. In ihrer Gesamtheit führt sie uns das schreckliche Ausmaß des Missbrauchs vor Augen.“ 

„Über Gespräche mit Betroffenen und über systematische Literatur- und Archivstudien haben wir ein Bild über den missbräuchlichen Medikamenteneinsatz bei Kindern in Nordrhein-Westfalen machen können“, so Professor Fangerau. „Wichtig war uns dabei, die Perspektive der damaligen Kinder abzubilden. Lange wurde ihnen nicht zugehört und nicht geglaubt. Whistleblower wurden zum Schweigen gebracht. Verantwortliche schauten weg oder ermöglichten den Missbrauch, dabei war ihnen wohl bekannt, dass sie gegen Gebote der Medizinethik ihrer Zeit verstießen. Erschreckend war die Vielfalt des missbräuchlichen Medikamenteneinsatzes.“ 

In der Studie konnten bisherige Forschungsergebnisse bestätigt und zusammengeführt sowie schwerwiegende Formen des missbräuchlichen Medikamenteneinsatzes nachgewiesen werden. Hierbei handelte es sich nicht um Einzelfälle, sondern um weit verbreitete, oft institutionell verankerte Praktiken. Nach konservativen Schätzungen waren circa 20 Prozent aller in den genannten Institutionen in Nordrhein-Westfalen untergebrachten jungen Menschen von missbräuchlichem Medikamenteneinsatz betroffen. Dieser umfasst: 

  • Medikamente wurden systematisch eingesetzt, um Kinder und Jugendliche zu sedieren, zu kontrollieren und gefügig zu machen.
  • Psychopharmaka, die eigentlich der Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen vorbehalten sein sollten, wurden routinemäßig verabreicht – nicht aus medizinischer Notwendigkeit, sondern zur „Erleichterung des Heimbetriebs“.
  • Einige Medikamente wurden zu Forschungszwecken verabreicht. Kinder und Jugendliche wurden zu medizinischen Versuchsobjekten gemacht. Ihr Einverständnis wurde nicht eingeholt, die Risiken wurden nicht erklärt, die Folgen nicht abgeschätzt.
  • Die missbräuchliche Gabe von Arzneimitteln war oft verflochten mit anderen Gewalterfahrungen. Vor allem Gewaltpraktiken und sexualisierte Gewalt sind umfassender, als bisher angenommen.

„Mit der Beteiligung am Fonds Heimerziehung und an der Stiftung Anerkennung und Hilfe hat die Landesregierung sich umfassend und aktiv an der Anerkennung erlittenen Leids beteiligt. Darüber hinaus förderte und fördert das Land weiterhin die Betroffenenverbände. Kein Geld und keine Unterstützung der Welt können aber wiedergutmachen, was den Betroffenen angetan wurde. Es tut mir von Herzen leid, dass Einrichtungen, die ein Zuhause hätten sein sollen, zu Orten der Qual wurden – mit Folgen, die bis heute nachwirken. Als Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen und stellvertretend für die gesamte Landesregierung bitte ich alle Betroffenen aufrichtig um Verzeihung für das, was ihnen angetan wurde“, so Minister Laumann. 

Hintergrundinformationen

Die Studie „Missbräuchlicher Einsatz von Medikamenten an Kindern und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen seit der Gründung des Landes bis in die 1980er Jahre“ wurde 2022 durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Auftrag gegeben.
Der Untersuchungszeitraum umfasst die Zeitspanne von der Gründung des Landes im Jahr 1946 bis zum Jahr 1980. Die Studie führt die bisherige Forschungslage zusammen und erweitert diese durch die umfassende Einbindung der Betroffenen sowie von Zeitzeuginnen und -zeugen mittels Interviews und einer Onlinebefragung.

Die Studie ist hier abrufbar: Link.

Quelle: Ministerium für Arbeit Gesundheit und Soziales des Landes NRW, Pressemitteilung v. 10.9.2025

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