Ein Streifzug durch die 200-jährige Geschichte des Kirchenkreises Siegen

Der versierte Historiker Dr. Jens Murken von landeskirchlichen Archiv in Bielefeld beleuchtete schlaglichtartig 200 Jahre Geschichte der Kirchenkreise und ging besonders auf den Kirchenkreis Siegen ein.
Im Bild v. links: Dr. Jens Murken und Superintendent Peter-Thomas Stuberg. Foto Karlfried Petri

In der alten Burbacher Kirche auf dem Römerfelsen, errichtet 1774–1776 , versammelten sich bereits seit Jahren die Gläubigen zum Gottesdienst, als 1818 der Kirchenkreis Siegen entstand und die Burbacher Kirchengemeinde zu eben dieser Diöcese Siegen gemeinsam mit den 12 weiteren Kirchengemeinden Siegen, Rödgen und Wilnsdorf, Netphen, Müsen, Holzklau, Hilchenbach, Freudenberg, Fischbach, Ferndorf, Dresselndorf, Krombach und Neunkirchen gehörte.

Am 4. Dezember 2018 hatte der Evangelische Kirchenkreis Siegen Dr. Jens Murken vom Landeskirchlichen Archiv in Bielefeld eingeladen, um den Anfängen, der Geschichte und der Zukunft des Kirchenkreises Siegen in eben dieser Burbacher Kirche nachzudenken. Eine überaus interessierte Zuhörerschaft hatte sich einladen lassen und erfuhr in schlaglichtartigen Perspektiven, welche wechselvolle Geschichte die Bevölkerung, ihr Landstrich und die Kirchen seit 200 Jahren erlebt haben.

Die Vorgeschichte des heutigen Kirchenkreises Siegen begann für den Historiker im späten 16. Jahrhundert, als sich die reformierte Bekenntnisbildung in Nassau-Dillenburg vollzog und der Landesherr die reformierte Lehre und Kirchenverfassung einführte. Auf der Herborner Generalsynode 1586 sei erstmals eine calvinistische presbyterial-synodale Kirchenordnung für Landeskirchen mit landesherrlichem Kirchenregiment beschlossen worden. Dies habe den Aufbau der Kirche aus den Einzelgemeinden von unten nach oben, das Recht der Laien in der Kirche und die Selbstständigkeit der Kirchen in inneren Angelegenheiten umfasst – allerdings unter Beibehaltung des landesherrlichen Kirchenregiments. Der synodale Aufbau der Kirche als einer neben dem Staat selbstständigen Institution habe sich jedoch nicht durchsetzen lassen.

Seit dem 16. Jahrhundert sowie verstärkt seit 1743 habe die fürstlich konsistoriale Verwaltung in Dillenburg mit preußischer Gründlichkeit dafür gesorgt, dass in der Kirche alles ordentlich zuging. Nach dem Wiener Kongress 1815 sei das Siegerland wegen der Stahlproduktion und des Bergbaus die begehrteste Partie im Zuge der damaligen europäischen Neuordnung gewesen und preußisch geworden, Burbach jedoch erst im Zuge eines Gebietsaustausches zwischen Nassau und Preußen im Herbst 1816. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. war als oberster Bischof, als „Summus episcopus“, für die Kirchen und auch deren inneren Angelegenheiten zuständig. Seine Politik bedeutete: Synoden ja, aber ohne kirchenregimentliche Befugnisse und nur unter staatlicher Leitung.

Mit der Anbindung des Kreises Siegen an die neue Provinz Westfalen zum 1. Juni 1817 unterstellte man auch die Geistlichkeit dem Konsistorium in Münster und der westfälischen Regierung in Arnsberg. 300 Jahre Reformation wurde im Oktober 1817 gefeiert. Das Jubiläum nahm der preußische König zum Anlass, die Union von Lutheranern und Reformierten zu forcieren. Dazu gehörte, dass per Regierungserlass im Sommer 1818 neben Siegen 15 weitere Diöcesen geschaffen wurden. Mit den Kirchenkreisen einher ging eine neue Synodal-Ordnung. In der Mark hatte die presbyterial-synodale Ordnung mit größerer Unabhängigkeit gegenüber dem landesherrlichem Kirchenregiment eine lange Tradition. Die neue Ordnung war dem zuwider. Daher hatten die Synoden der Mark eigene Verfassungsgrundsätze verabschiedet, die die Autorität den Presbyterien und Synoden zuschrieb und die Beteiligung der Ältesten einforderte. Die Leitungspositionen sollten nur zeitlich befristet gewählt werden. Alle westfälischen Kirchenkreise schlossen sich der märkischen Kritik an mit Ausnahme des reformierten Siegerlandes. Die 16 Siegerländer Pfarrer, die sich am 23./24. Februar 1818 zur Siegener Kreissynode versammelt hatten, erklärten sich im Wesentlichen mit der Vorlage einverstanden, so Murken. Dazu gehörte auch, dass der Superintendent auf Lebenszeit vom König ernannt wurde. Die kirchliche Selbstverwaltung und das freie Pfarrwahlrecht der Gemeinden hatten die Siegener Synoden 1818 offensichtlich nicht im Blick gehabt.

Die erste westfälische Provinzialsynode tagte in der ersten Novemberhälfte 1819 in Lippstadt. Sie lehnte den Regierungsentwurf der Synodal-Ordnung einstimmig ab. Als Vertreter des Siegerlandes nahm der neue, kaum 30-jährige Superintendent und Freudenberger Pfarrer Johann Friedrich Bender daran teil.

Am 5. März 1835 trat die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung in Kraft, ein Kompromiss zwischen der konsistorialen und der presbyterial-synodaler Verfassung. Nun fanden jährliche Kreissynoden in Siegen statt.

Nach dem Urteil des ehemaligen Siegener Pfarrers und Synodalassessors Dr. h.c. Ulrich Weiß, so Murken, habe durch die neue Verfassung die 1822 in Freudenberg ihren Anfang genommene Erweckung einen schweren Weg vor sich gehabt und das neu entstehende „geistliche Leben“ sei niedergehalten worden. Von Freudenberg aus, wo Calvin gelesen worden sei, habe sich die Erweckung in einen reformierten und einen mystischen Zweig gespalten. Der Erweckung verdanke man jedoch nach Weiß das Comeback des Heidelberger Katechismus in den Gemeinden. Ende der 1850er Jahre habe eine Gruppe Siegen-Wittgensteiner Pfarrer den Heidelberger Katechismus, der nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon in keiner Siegerländer Gemeinde mehr in Gebrauch gewesen sei, neu bearbeitet und herausgegeben.

Die Abdankung des preußischen Königs und deutschen Kaisers Wilhelm II. im November 1918 bedeute für die evangelische Kirche eine bis dahin nicht gekannte Verfassungskrise. Sie habe sich zunächst kopflos gefühlt, aber auch die Chancen einer Selbsterneuerung erkannt. Die Weimarer Reichsverfassung hatte es nun jeder Religionsgesellschaft überlassen, ihre Angelegenheiten selbstständig zu ordnen und zu verwalten. Die Siegener Kreissynode hatte bereits 1921, drei Tage vor der ersten verfassungsgebenden Kirchenversammlung in Berlin, Kirchenverfassungsfragen beraten und das presbyterial-synodale Element betont. Siegens Superintendent Heinrich Hubbert machte deutlich, dass kirchliche Verfassungsfragen niemals kirchliche Lebensfragen seien. Er wies darauf hin, dass eine Kirche auch bei der besten zweckmäßigsten Verfassung ein Baum sein könne, der „wurzelfaul und wipfeldürr“ sei.

Unterdessen war die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835 aktualisiert worden und am 6. November 1923 in Kraft getreten. Hier wurde erstmals für die kreisgemeindliche Ebene durchgängig der Begriff „Kirchenkreis“ verwendet, eignete ihm eine eigene Rechtspersönlichkeit zu und definierte ihn als „Selbstverwaltungskörper“ und zugleich als „Verwaltungsbezirk der Kirche“.

Zu Beginn der NS-Zeit wendeten sich die Siegerländer Gemeinden zwar gegen die bischöfliche Neuordnung des deutschen Kirchenwesens, bekannten sich aber klar und entschieden zu dem neuen Staat. Murken streifte die NS-Zeit nur kurz und verwies auf Volker Heinrichs grundlegende Studie. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich die Siegerländer Gemeinden überwiegend deutlich an die Seite der Bekennenden Kirche stellten.

Die heute geltende Ordnung der Evangelischen Kirche von Westfalen wurde 1953 in Kraft gesetzt. Die Zuschnitte etlicher Kirchenkreise änderten sich, auch um der Belastung der Superintendenten willen. Lediglich die Kirchenkreise Iserlohn, Wittgenstein und Siegen blieben in ihrem Zuschnitt seit 1818 in etwa erhalten. Zum Kirchenkreis Siegen kam 1842 die Kirchengemeinde Olpe hinzu.

Murken ging abschließend auf die Ausdifferenzierung der Kirchenkreise nach 1953 ein. Seit Mitte der 1960er Jahre entwickelten sich kirchliche Dienste und Einrichtungen, die über die Zuständigkeit einzelner Kirchengemeinden hinauswuchsen und den Kirchenkreisen einen Verantwortungs- und Bedeutungszuwachs verschafften. Von besonderer Bedeutung für die Aufgabenwahrnehmung sollte sich das Finanzausgleichsgesetz erweisen, das die westfälische Landeskirche 1968/69 eingeführt hatte. Seither sind alle Kirchenkreise unabhängig von ihrem Steueraufkommen finanziell gleichgestellt. In dieser Zeit richtete man hauptamtliche Superintendentenstellen ein und schuf Kreiskirchenämter, so in Siegen 1970. 1976 lief bereits die Verwaltung von 18 der 31 Kirchengemeinden des Kirchenkreises über das Kreiskirchenamt in der Siegener Pfarrstraße hinter der Nikolaikirche. Das Kreiskirchenamt beschäftigte damals 14 Mitarbeitende. 1981 erfolgte der Umzug des Kreiskirchenamtes in das umgebaute Kinderheim in der Burgstraße. In dem „Haus der Kirche“ fanden auch die Referate des Kirchenkreises Platz. Im Mai 1976 wurde eine Synodalvisitation des Kirchenkreises Siegen durchgeführt. Superintendent Ernst Dilthey machte damals deutlich, dass das Siegerland kein homogenes Gebilde sei. Gemeinden, Gemeinschaften und Pastoren seien sehr verschieden. Jedes Dorf sehe oft genug nur sich selbst, ohne über den Berg auf die andere Ortschaft zu schauen. Für den Kirchenkreis bedeute dies, dass es noch sehr an kreiskirchlichem Bewusstsein mangele.

Dies veränderte sich auch in den Folgejahren nicht. So wurde im Herbst 1998 nach einer weiteren Visitation überlegt, den Kirchenkreis in drei Teile zu gliedern, um das Wir-Gefühl zu verbessern. Die Regionalisierung scheiterte an der Kirchenkreis-Identität. Murken zitierte Ulrich Weiß: „Mutterboden Siegerländer Religion ist eine Mischung aus erwecklicher Frömmigkeit und reformierter Kirchlichkeit. Dies ist den Siegerländer Christenmenschen nur in seltenen Fällen bewusst.“ Weiß attestierte ihnen eher eine Siegerland-Identität als eine Kirchenkreis-Identität. Insgesamt ließe sich eher eine Identität mit der Kirchengemeinde als mit dem Kirchenkreis wahrnehmen. Die Kreissynode initiierte daraufhin 1999 einen Leitbildentwicklungsprozess.

In Folge der landeskirchlichen Reformvorlage „Kirche mit Zukunft“ des Jahrs 2000 wurden Gestaltungsräume eingerichtet und die Kirchenkreise Siegen und Wittgenstein bildeten den Gestaltungsraum XI. In 2001 wurden die beiden Kreiskirchenämter zu einem Kreiskirchenamt Siegen/Wittgenstein zusammengelegt.

Eine rege Diskussions- und Fragerunde schloss sich an, so dass die Veranstaltung deutlich länger dauerte als ursprünglich geplant. Superintendent Peter-Thomas Stuberg betonte abschließend: „Der Evangelische Kirchenkreis ist in meinen Augen eine geistliche Größe. Wo geht der Weg hin im Miteinander? Das kann nicht mehr nur die Kirchengemeinde mit sich alleine ausmachen. Die Aufgaben müssen als geschwisterliche Gemeinschaft wahrgenommen werden.“ kp
Quelle: Kirchenkreis Siegen, Aktuelles, 7.12.2018

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