Historische Dokumente aus dem Kammerbezirk Siegen zum Lohnkampf in der Metallindustrie

Autor: Netzwerk Westfälische Wirtschaftsgeschichte (Westfälische Wirtschaftsarchiv (WWA) und die Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e.V. (GWWG))

Bericht über den Lohnkampf von 1963 in „Die Lünette“, der Werkszeitschrift der Maschinenfabrik Herkules in Kaan-Marienborn:

„Die Nacht vom 6. zum 7. Mai 1963 war der dramatische Höhepunkt der schärfsten Auseinandersetzung zwischen den Tarifpartnern der Metallindustrie, die in der Nachkriegszeit stattgefunden hat. Nach zwölf Stunden ununterbrochener Besprechungen einigten sich die streitenden Parteien um 4 Uhr früh auf 5 Prozent Lohnerhöhung vom 1. April 1963 bis zum 31.März 1964 und anschließend auf eine weitere Anhebung der Tariflöhne um 2 Prozent bis zum 30. September 1964. Außerdem wurden weitere 3 Prozent Lohnerhöhung durch die Arbeitszeitverkürzung von 42 1/2 auf 41 1/4 Stunden ab 1. Januar 1964 beibehalten. Als Gesamtlaufzeit des neuen Tarifvertrages wurden 18 Monate vereinbart. Dieser Tarifstreit war jedoch weit mehr als einer der früheren Lohnkämpfe, deren unmittelbare Auswirkungen auf den betroffenen Industriezweig beschränkt blieben. Diesmal stand die Zukunft unserer gesamten Wirtschaft auf dem Spiel, die ja in der Metallindustrie ihre stärkste Stütze hat.

Die IG Metall kündigte zum 31. März 1963 die Lohn- und Gehaltstarife zunächst in Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen. Sie verlangte eine Tariferhöhung um 6 Prozent. Dieselbe Forderung wurde kurze Zeit später auch in allen anderen Bundesländern außer Bremen erhoben. Bei den folgenden Tarifgesprächen schien sich zunächst eine Annäherung der Standpunkte abzuzeichnen. Die Arbeitgeber boten eine Erhöhung um 3,5 Prozent für 1963, nochmals 3,5 Prozent für 1964 und die Beibehaltung der bereits früher vereinbarten 3 Prozent ab 1. Januar 1964 aus dem Bad Hamburger Abkommen an. In der zweiten Aprilwoche erklärte die IG Metall, daß die Tarifverhandlungen gescheitert seien. Alle Bemühungen, die Partner wieder an einen Tisch zu bringen, schlugen fehl. In Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen fanden Urabstimmungen der Mitglieder der Gewerkschaft statt, die sich mit großer Mehrheit für Kampfmaßnahmen zur Durchsetzung der Lohnforderung von 8 Prozent aussprachen. Der Arbeitskampf entbrannte in Baden­Württemberg am 29. April mit der Arbeitsniederlegung in zahlreichen, vorwiegend großen und wichtigen Betrieben. Am selben Tag beschlossen die badisch­württembergischen Metallarbeitgeber als Abwehrmaßnahme die Aussperrung sämtlicher Lohnempfänger in allen Betrieben. Damit war die Metallindustrie in einem der am stärksten industrialisierten Bundesländer völlig lahmgelegt. Auch in NRW, dem größten Bundesland mit den meisten metallindustriellen Betrieben, sollten alle Räder still stehen. Die Automobilindustrie mußte die Einstellung ihrer Produktion ankündigen. Bei der Stahlindustrie stand Kurzarbeit bevor. Eine wirtschaftliche Katastrophe ohnegleichen deutete sich an. In dieser gefährlichen Lage sah sich zunächst Bundespräsident Dr. h. c. Heinrich Lübke zu einem mahnenden Appell veranlaßt, und kurze Zeit später schaltete sich der Bundeswirtschaftsminister Professor Dr. Ludwig Erhard ein, dem es gelang, die streitenden Parteien wieder ins Gespräch zu bringen. Dabei blieb es nicht nur bei einem Meinungsaustausch, sondern es kam jener Kompromiß zustande, der das neue Tarifabkommen für die Metallindustrie bildet.

Wir sind noch einmal davongekommen. Die Lehre daraus ist, daß in der künftigen Tarifpolitik andere Wege beschritten werden müssen. ‚Streik ist Wahnsinn‘, war schon in diesem Frühjahr die Meinung der Öffentlichkeit. An die Stelle solchen ‚Wahnsinns‘ sollten Besonnenheit und Sachlichkeit treten, die Arbeitskämpfe mit ihren schwerwiegenden Folgen von vornherein unmöglich machen. Die Tarifpartner der Metallindustrie haben dies als Fazit der Auseinandersetzungen inzwischen erkannt. Sie verhandeln über ein neues Schlichtungsabkommen, das Arbeitskämpfe verhindern soll. Das läßt uns hoffen.“
Quelle: Facebook-Seite des Netzwerkes Westfälische Wirtschaftsgeschichte, Eintrag v. 24.1.2017, Danke für die Erlaubnis der Übernahme!

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