Vor 170 Jahren: Startschuss für die Universität Siegen

Gründung der landwirtschaftlichen Sonntagsschule in Siegen

Ein Jubiläum geht um in Nordrhein-Westfalen, das Jubiläum der Gesamthochschulgründungen. Vor 40 Jahren, am 1. August 1972, wurden die fünf Hochschulen neuen Typs in Duisburg, Essen, Paderborn, Wuppertal und Hüttental bei Siegen ins Leben gerufen – beachtliche Ergebnisse eines noch weitaus ambitionierteren bildungspolitischen Experiments, dem jedoch die Vollendung nicht beschieden war.
Gesellschaftliche Veränderungen vollziehen sich nicht auf der Mikroebene von Quantensprüngen; neu Hervortretendes ergibt sich meist folgerichtig und unausweichlich aus einem komplexen Ursachengeflecht. Selten einmal sind die konkreten historischen Momente zu bestimmen, an denen lange Entwicklungslinien ihren Ausgang nahmen – oder dies eben unterblieben wäre, wenn die Weichensteller in jenen Augenblicken nicht agiert hätten.

Carl Schnabel (1809-1875)

Der historische Moment, von dem an sich das Bildungs-angebot im Siegerland auf die Gesamthochschulerrichtung zubewegte, trat am 1. August 1842 ein, auf den Tag genau 130 Jahre vor dem gegenwärtig gefeierten Datum. Es geht noch genauer: In der halben oder ganzen Stunde nach 18:30 Uhr. Um diese Zeit hielt Carl Schnabel, 32jähriger Lehrer an der Siegener Bürgerschule und engagierter Pionier auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung, während der 1. Jahrestagung der „Landes-Cultur-Gesellschaft für den Regierungsbezirk Arnsberg“ in Olpe einen Vortrag über die Segnungen landwirtschaftlicher Sonntagsschulen für das berufliche Fortkommen junger Bauernsöhne. Schnabel kam mit seinem Referat gut an – so gut, dass ihn das Publikum, zu dem kein geringerer als Westfalens Oberpräsident Ludwig Vincke gehörte, spontan mit der Gründung einer solchen Schule im Kreis Siegen beauftragte. Von da ab führte die Entwicklung, wie unvorhersehbar sie auch war, stetig dem 1972 erreichten Zustand entgegen – nicht immer glatt und ungefährdet, aber doch von einer gewissen Eigendynamik getragen.
Die Landwirtschaftliche Sonntagsschule wurde 1843 in Siegen eröffnet und erfreute sich inniger Anteilnahme des „alten Vincke“, wie dieser Brief zeigt:

Faksimile: Universitätsarchiv Siegen

Die freundliche Mahnung, den sonntäglichen Unterricht keinesfalls mit den Kirchgangszeiten kollidieren zu lassen, dürfte freilich bei den frommen Siegerländern überflüssig gewesen sein.

Nach vorübergehendem Ruhen der Anstalt in den Revolutionsjahren wurde sie 1853 wieder aus ihrem Schlummer erweckt, zunächst immer noch als Sonntagsschule, nun aber – dem besonderen Schwerpunkt der hiesigen Landbewirtschaftung angemessen – unter dem Namen „Wiesenbauschule“. Deren allmählicher Ausbau zu einer höheren Fachschule mit stetig den aktuellen Erfordernissen angepasstem Profil führte schließlich 1962 (was ein weiteres Jubiläum darstellt) zur Verstaatlichung der bislang kommunalen Einrichtung. Im Sommer 1971 war die Ingenieurschule für Bauwesen mit ihren damals etwa 500 Schülern ein wichtiger Gründungsbaustein der Fachhochschule Siegen-Gummers-bach, welche ihrerseits ein Jahr später in die Gesamthochschule überführt wurde.
Es war ein weiter Weg von den Sonntagskursen für landwirtschaftliches Meliorationswesen bis zur universitären Ausbildung von Bauingenieuren in unseren Tagen. Allenfalls das Forschen im kleinen „Institut für Wasser und Umwelt“ lässt noch fachbezogene Nachklänge der vor 170 Jahren angestoßenen Geschehnisse erahnen. Die Universität kann sich auf andere und näherliegende Traditionen berufen. Kaum zweifelhaft ist jedoch, dass Siegen ohne die aus der alten Sonntagsschule hervorgegangene Ingenieurschule für Bauwesen keine eigene Fachhochschule bekommen hätte (die anderen in dieser aufgegangenen Einrichtungen wären dann sicherlich den Fachhochschulen Köln oder Wuppertal als Außenabteilungen zugeschlagen worden) und dass die Existenz der Fachhochschule (neben der Pädagogischen Hochschule natürlich) wiederum eine notwendige Voraussetzung für die Errichtung der Gesamthochschule gewesen ist.
Eine Universität in Siegen würde es heute vermutlich nicht geben, wenn vor 170 Jahren, abends nach halb Sieben in Olpe, der wackere Carl Schnabel seinen Schnabel gehalten hätte.
P.K.

Transkription:

Mit Theilnahme habe ich aus Ihrem Berichte vom 6.
d.M. ersehen, daß die landwirthschaftliche Sonntagsschule
dort wirklich zu Stande gekommen ist, auch sich schon
einer ziemlich bedeutenden Zahl von Theilnehmern er=
freuet. Die für die beiden Semester bestimmten Un=
terrichtsgegenstände sind zweckmäßig ausgewählt, nur
dürfte der Zeichenunterricht auch wohl im Sommer
fortzusetzen seyn.1) Ich darf übrigens vorausse=
tzen, daß die Lehrstunden so gelegt sind, daß dadurch
die Zuhörer an der Theilnahme des vormittägigen
Gottesdienstes nicht behindert werden.2)
Denjenigen Personen, welche den Unterricht aus ge=
meinnütziger Gesinnung unentgeldlich ertheilen,
bezeuge ich gern meinen Beifall und Dank.
Auch werde ich, wenn Sie mir nach Ablauf des nächsten
SommerSemesters über den Zustand der Schule
weitere Mittheilung werden gemacht haben, für die
2 fleißigsten und bewährtesten Schüler Prämien
bestimmen.
Münster 13. December 1843.
Der OberPräsident
Vincke

An
den Herrn KreisSekretair
Ehlert
in Siegen
[Tagebuch-]Nr. 5745

1) Am rechten Rand auf den Satz bezogenen Marginalie: „geschieht“
2) Am rechten Rand auf den Satz bezogenen Marginalie: „Ist geschehen“

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