Reformierte Kirchengemeinden des Siegerlandes leisteten überzeugt Widerstand gegenüber den preußischen Unionsbestrebungen

Prof. Dr. Veronika Albrecht-Birkner sprach in der Müsener Kirche

Prof. Dr. Veronika Albrecht-Birkner zeichnete in der Müsener Kirche das Bild von selbstbewussten und informierten reformierten Siegerländer Kirchengemeinden, denen das presbyterial-synodale System mit einer sich von der Gemeindebasis her bestimmenden Kirchenstruktur grundlegend war. Foto Karlfried Petri


“ Die preußische Regierung gründete den Kirchenkreis Siegen im Sommer 1818. Genauer, es war das erst 1817 gegründete Ministerium der Geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten, also des Ministeriums für Kirche und Schule oder des Kultusministeriums, könnte man sagen. Dies erfuhren die interessierten Zuhörer von Prof. Dr. Veronika Albrecht-Birkner, Universität Siegen, Fachbereich Evangelische Theologie, am 2. Dezember 2018 in der etwas spärlich besuchten Müsener Kirche. Der Evangelische Kirchenkreis Siegen hatte zu der Vortragsveranstaltung eingeladen, um dem Werden des Kirchenkreises, der in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden ist, nachzuspüren. Dazu gehört auch die Zusammenführung des reformierten sowie des lutherischen Bekenntnisses zu einer Union, die im Siegerland erheblichen Widerstand erfuhr.

Doch zunächst einmal wurde das Siegerland in Folge des Wiener Kongresses in den preußischen Staat und 1917 in die Provinz Westfalen eingegliedert. Das hatte zur Folge, dass ein landesherrliches Kirchenregiment über Kirchenbehörden, Konsistorien genannt, in die Pfarrämter und Gemeinden hineinregieren wollte. Im Lutherischen war das so üblich, entsprach aber deutlich nicht dem reformierten Selbstbewusstsein, das seit dem späten 16. Jahrhundert in den Siegerländer Kirchengemeinden gewachsen war und in einer presbyterial-synodalen Kirchenverfassung seinen Ausdruck fand. Hier wurde von der Gemeindebasis her gedacht. Der preußische Staat hatte das ehrgeizige Ziel, die reformierte und lutherische Konfession in den preußischen Provinzen zu einer evangelischen Konfession zusammenzuführen. Das kam in den Siegerländer Gemeinden gar nicht gut an, erführen die Zuhörer von der Kirchenhistorikerin, die so manchen Spuren in Archiven nachgegangen ist. Die Siegerländer verhielten sich renitent gegenüber den beabsichtigten Strukturveränderungen, die zunächst die Kirchenordnung betrafen. Superintendent war damals von 1819 bis 1858 Johann Friedrich Bender. Rückenwind erhielt man von der Westfälischen Provinzialsynode, die im September 1819 in Lippstadt tagte. Bender konnte berichten, dass „die Einmischung der Staatsbehörden in rein kirchliche Gegenstände“ oder „die Leitung und Bevormundung der Kirche durch den Staat“ verworfen worden seien. Von der Westfälischen Synode abgelehnt wurde auch die 1822 von Friedrich Wilhelm III. vorgelegte Agende, die über den Gottesdienst die Union zwischen Lutheranern und Reformierten herbeiführen wollte und dabei eine lutherisch-hochkirchliche Liturgie favorisierte. Die Pfarrer des Kirchenkreises Siegen blieben in den folgenden Jahren bei ihrer Ablehnung der neuen Agende. Begründet wurde dies mit der Haltung der Gemeinden. In Ferndorf beispielsweise argumentierte man sachkundig mit der Ablehnung des lutherischen Verständnisses vom Abendmahl, das dem katholischen zu ähnlich sei.

Superintendent Bender wurde vom Konsistorium gedrängt, die Herbeiführung der Union ernstlicher zu betreiben. Als offiziell uniert galt seit 1824 lediglich Burbach, wo der kurz zuvor mit kräftigem Rückenwind aus Berlin eingesetzte Pfarrer Georg Jacob Reuß die Union mit nicht unerheblichem Druck durchgesetzt und durch Unterschrift sämtlicher Gemeindeglieder dokumentiert hatte. Den Siegerländer reformierten Gemeinden, so Albrecht-Birkner, war die Einführung einer Union schon deshalb nicht plausibel, weil es mangels Lutheranern aus ihrer Sicht nichts zu unieren gab.

Bender unternahm eine Rundreise durch die Gemeinden. Das Presbyterium in Oberfischbach widersprach vorsorglich allen Neuerungen, die über die Anpassung des Abendmahlsritus hinausgingen. Im Übrigen, so die Presbyteriumsmitglieder, gelte die Zustimmung jeweils nur für ihre Person, nicht jedoch für die ganze Gemeinde. Andere Presbyterien verhielten sich ähnlich und lehnten weiterhin die Union größtenteils ab.

1830 wollte der preußische König die Gelegenheit der „Jubelfeier der Augsburgischen Confession“ nutzen, um die Union herbeizuführen. Superintendent Bender legte den Pfarrern inständig nahe, zu diesem Anlass für die seit 1827 immer noch ausstehende Annahme der Union durch die Gemeinden zu sorgen. Der Erfolg war mäßig. 1835 wurde dann die Agende für die Evangelische Kirche in den königl. Preußischen Landen mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Westfalen und die Rhein-Provinz eingeführt. Für die Reformierten ein schlechter Kompromiss. Die zugleich erlassene Kirchenordnung wurde jedoch sehr positiv aufgenommen, da sie Elemente der presbyterial-synodalen Verfassung enthielt.

Den reformierten Gemeinden ein Dorn im Auge war, dass sie ihre Pfarrer nicht selbst wählen konnten, sondern die Konsistorien die Besetzungen verfügten. Eine grundlegende Verletzung des reformierten Kirchenverständnisses!

Die preußischen Einheitlichkeitsbestrebungen wurden nicht nur durch die beiden verschiedenen Konfessionen gestört, sondern auch durch religiöse Versammlungen in privatem Rahmen neben den regulären Gottesdiensten. In Freudenberg gab es eine solche religiöse Versammlung von 30–40 Personen, die sich sonntags nach der Nachmittagskirche versammelten. Hauptkritikpunkt war, dass der Faßbinder Stahlschmidt, bei dem die Versammlungen stattfanden, nicht nur Reden vorlas, „sondern eigene Vorträge halten solle“. Die Versammlungsteilnehmer kämen zwar auch in die Kirche, weshalb man sie nicht als Separatisten bezeichnen könne, würden aber während der Predigt demonstrativ in ihren Gesangbüchern blättern. Diese Versammlungsleute wollten keine Gründung einer von der Landeskirche unabhängigen Gemeinde, sondern eine Einflussnahme auf die Kirche durch die Pfarrwahl vor Ort, was jedoch misslang. So entstanden im Laufe der Zeit legitime Erbauungsversammlungen mit eigenen Predigern. Ein Missions-Hülfs-Verein“ entstand und es wurden „Missionsbetstunden“ eingerichtet. Nachdem sich das Vereinswesen in den 1840er Jahren noch einmal intensivierte und man sich angewöhnt hatte, zu den jeweiligen Stiftungsfesten der Vereine regelmäßig auswärtige Prediger einzuladen, wurde im Jahre 1852 in Freudenberg der „Verein für Reisepredigt“ gegründet – Vorgänger des bis heute bestehenden Siegerländer Gemeinschaftsverbandes. Albrecht-Birkner: „Diese Entwicklung hatte ihre Logik: Strukturell hatte man mit dieser „Ergänzung“ der unierten Kirche durch selbst ausgesuchte Prediger wieder eine Kirche geschaffen, in der Laien eine tragende Rolle spielten – zunächst einmal in Gestalt der Wahl ihrer (anderswo) ordinierten Pfarrer – ohne dass man gleichzeitig den Versuch aufgegeben hätte, die landeskirchlichen Pfarrerwahlen zu beeinflussen. Ab den 1860er Jahren stellte man Laienprediger an, wodurch die (Wieder-) Installierung der Laien in der Kirche durch eine „Ergänzung“ derselben nur konsequent fortgesetzt wurde.“ Die Pfarrerschaft des Kirchenkreises Siegen war über die mit konsistorialer Genehmigung erfolgte Gründung des „Vereins für Reisepredigt“ weitgehend entsetzt. Es gab allerdings auch Pfarrer, die den Versammlungen nahestanden.

Die frühe Geschichte des Kirchenkreises Siegen war in mehrfacher Hinsicht geprägt von der Eingliederung in die preußische Landeskirche. Die Gemeinden waren sich ihrer reformierten Prägung als mündige Gemeinde sehr bewusste und leisteten Widerstand gegen die Unionsbestrebungen, die mit ihren Folgen für den Gottesdienst und das Abendmahl sowie die verweigerte Pfarrerwahl durch die Gemeinde die Entstehung von selbstständigen Gemeinschaften befördert. Dies könne, so Albrecht-Birkner in ihrem Fazit, als Auswanderung aus der unierten Kirche durch reformierte Laien interpretiert werden. Das immer wieder betonte Anliegen der Gemeinschaften, keine Alternative, sondern lediglich eine Ergänzung der unierten Landeskirche sein zu wollen, zeige, dass es ihnen noch immer um ihre Kirche gegangen sei, die sie aber um die reformierten Elemente hätten ergänzen wollen, weil sie sie in der unierten preußischen Kirche vermissten.

Superintendent Peter-Thomas Stuberg dankte herzlich für den inspirierenden Vortrag, dem sich noch eine kurze, ausgesprochen interessierte Fragerunde anschloss.

kp“
Quelle: Kirchenkreis Siegen, Aktuelles, 4.12.2018

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