Die Entdeckung des indischen Tagebuchs der Anna Pappritz

Bianca Walther


Manchmal muss der Zufall mitspielen: Bei einem Forschungsaufenthalt im Bundesarchiv Koblenz entdeckte die Doktorandin Bianca Walther das verschollen geglaubte Tagebuch einer Berliner Frauenrechtlerin, die 1912 nach Indien reiste. Jetzt ist es als kommentierte Edition erschienen.

Eigentlich war sie in ganz anderer Sache unterwegs gewesen: Bianca Walther, die am Lehrstuhl von Prof. Dr. Bärbel Kuhn (Didaktik der Geschichte) promoviert, war mit einem Reisekostenzuschuss des Gleichstellungsbüros der Universität Siegen ins Bundesarchiv gefahren, um im Nachlass der Politikerin Marie-Elisabeth Lüders nach Schriftverkehr mit Freundinnen aus der Frauenbewegung zu suchen. Als man ihr anbot, einen noch nicht erschlossenen Zugang zu diesem Nachlass im Magazin zu sichten, wartete eine Überraschung auf sie: Ein unscheinbarer Karton enthielt ein bis dato unbekanntes Typoskript eines wohl verschollenen Reisetagebuchs, das die mit Lüders befreundete Frauenrechtlerin Anna Pappritz im Winter 1912/13 auf ihrer Reise durch Indien und das damalige Ceylon (heute Sri Lanka) geführt hatte.

Diese Indienreise bildete bislang eine rätselhafte Lücke in der biografischen Forschung zu Anna Pappritz. Dass Pappritz mit ihrer Dresdner Vereinskollegin Katharina Scheven in Indien gewesen war, wusste man. Allerdings fehlten in ihrem Nachlass und auch in sonstigen überlieferten Dokumenten aus ihrer Feder jegliche Hinweise darauf, warum sie dorthin gereist war, welche Orte sie besuchte und welche Eindrücke sie mit nach Hause nahm. Briefe oder Postkarten sind nicht überliefert; auch in ihren privaten Aufzeichnungen findet sich kaum eine Erwähnung der Reise.

Der Fund hat diese Lücke nun geschlossen. Die Abschrift des Reisetagebuchs, die sich in Marie-Elisabeth Lüders’ Nachlass befand, enthält auf 150 Seiten detaillierte Angaben über Pappritz’ Erlebnisse und Eindrücke, über Reisepraktisches und Logistisches. „Das Tagebuch ist nicht nur für die Pappritz-Forschung, sondern auch für die historische Tourismusforschung interessant“, erklärt Bianca Walther. Anna Pappritz und Katharina Scheven waren auf eine Weise unterwegs, die schon deutliche Züge des heutigen Individualtourismus trägt: Mit zwei Reisehandbüchern im Gepäck und der Hilfe örtlicher Thomas-Cook-Reisebüros bewegten sich die beiden Frauen weitgehend selbstständig von Ort zu Ort, wo sie Ausflugsangebote wahrnahmen und Sehenswürdigkeiten besuchten.

Dabei nutzten sie wie andere Reisende auch die koloniale Infrastruktur auf dem indischen Subkontinent. Begegnungen mit der örtlichen Bevölkerung suchten sie dagegen kaum. Anna Pappritz und Katharina Scheven waren Touristinnen – und benahmen sich auch so. Sie ließen sich Vorrang gewähren, schauten mit Überlegenheitsgefühl auf das Land und seine Menschen, stellten Rassismus und Fremdherrschaft nur selten in Frage. Als reisende Frauen verschoben sie Grenzen wilhelminischer Weiblichkeit, während sie andere Trennlinien erbittert verteidigten und nur hier und dort zaghafte Anflüge eines Perspektivwechsels erkennen ließen. „Das Reisetagebuch ist damit auch ein Zeugnis der komplexen, manchmal widersprüchlich scheinenden Beziehung zwischen weißer Weiblichkeit und kolonialer Herrschaft“, so Walther.

In Abstimmung mit Prof. Dr. Kuhn hat Bianca Walther, die schon zuvor zu reisenden Frauen und zu Anna Pappritz gearbeitet hatte, das Tagebuch nun mit einer thematischen Einführung und erläuternden Anmerkungen als kommentierte Edition herausgegeben. „Der Fund des Reisetagebuchs ist wirklich ein Glücksfall für die Forschung und ich freue mich sehr, dass er durch Projektmittel des Gleichstellungsbüros möglich wurde“, so die Gleichstellungsbeauftragte der Universität Siegen, Dr. Elisabeth Heinrich. Die Fördergelder des Gleichstellungsbüros werden einmal jährlich ausgeschrieben.

Anna Pappritz: Indisches Tagebuch. Eine Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Bianca Walther, mit einem Vorwort von Bärbel Kuhn und Kerstin Wolff (= SOFIE Schriftenreihe zur Geschlechterforschung, Bd. 24). Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2020. ISBN: 978-3-86110-750-7.

Quelle: Universität Siegen, Forschungsnews, 28.9.2020

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