Kultur im Siegerland zwischen 1945 und 1948

Ein wiederentdeckter Bericht aus dem Kreisarchiv.

Ein Kreismitarbeiter überbrachte dem Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein zwei Aktenhefter, die er bei Aufräumarbeiten gefunden hatte. Die beiden Akten beinhalten Schriftstücke der Kulturabteilung der Siegener Kreisverwaltung von 1945 bis 1955.
Das bedeutendste Schriftstück ist der Bericht über die kulturelle Tätigkeiten im Siegerland. Am 17. Juli 1948 hatte der Arnsberger Regierungspräsident die Hauptgemeindebeamten gebeten, über die Kulturarbeit in den Jahren 1945 bis 1948 zu berichten. Kurze Vergleiche mit den Veranstaltungen der NS-Organisation „Kraft durch Freude“, die Schwierigkeiten nach dem Kriegsende und die weitere Entwicklung sollten dargelegt werden. Kreiskulturreferent Wolfgang Suttner und Kreisarchivar Thomas Wolf bewerten diesen Tätigkeitsbericht als eine zentrale und aufschlussreiche Quelle für die Kulturgeschichte des Siegerlandes in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Bericht folgt nun ungekürzt:

„Es ist sehr schwierig, über einen so ausgedehnten Zeitraum Bericht zu erstatten. Das .Schulamt hat einen großen Teil der Kulturarbeit des Siegerlandes behelfsmäßig betreut. Nachdem die Stadt Siegen seit einiger Zeit schon im Kulturausschuß diese Dinge pflegerisch lenkt und fördert, ist auch damit zu rechnen, daß der Landkreis, bald alle Kulturfäden in einem besonderem Amt zusammenlaufen läßt. Die Sitzung des Kulturausschusses der Stadt Siegen am vergangenen Freitag zeigte, wie hier mit allem Ernst Sauberkeit und Ordnung geschaffen wird. Es steht zu befürchten., daß die ganze Meute der üblen Kulturbringer sich mit Lizenzanträgen an das Land wendet und auf eine rein bürokratische Erledigung hofft.-
Alles in allem wollen wir uns des in drei Jahren Geschaffenen von Herzen freuen und den getreuen Ekharten, die in den einzelnen Orten die Führung an sich nahmen, sehr dankbar sein. Eins-wollen wir unserm kommenden Kulturamt immer wieder einschärfen: es genügt nicht ein blosses Sympathisieren mit den Trägern wirklicher Volksbildung, auch die gelegentliche Darreichung von Mitteln ist nicht, die eigentliche -Kraftquelle unentwegter Arbeit, das Amt muß beim Miterleben die frohen mutmachenden Grüsse der großen Gemeinschaft bringen und auch nachher den wackeren Helfern freundschaftlich und beratend näherkommen.
Als die buntschillernde Hitler-Seifenblase zersprang,.war ein wirkliches Sehnen nach Überzeitlichem in vielen Menschen – die Hilchenbacher waren die ersten, die. unter Hermann Forschepiepe zur Tat schritten und in ihrem „Kunstkreis“ eine mustergültige Kulturpflegestätte schufen – mancher hat befürchtet die Fülle und der hohe Wert des Gebotenen, die Schaffensfreude der Helfer, und die Aufnahmefähigkeit der Bedachten würden nicht durchhalten. Gebende und Nehmende aber haben die Treue gehalten, auch bei sturen Verkennungen. Kulturförderung und dankbare Anerkennung sollte dabei für die Stadtverwaltung nahestehenden Männer eine selbstverständliche Pflicht sein.
Angespornt vom Hilchenbacher Kunstkreis haben sich nach und nach Kulturgemeinden gebildet in Buschhütten ,Weidenau, Eiserfeld, Freudenberg und Neunkirchen, die alle ihr eigenes Gepräge haben. So ist das industrielle Tal von Norden nach Süden, wo die Arbeit am nötigsten ist, mit Kulturgemeinschaften genügend versehen. Vor einigen Wochen haben sich sämtliche Vereine in einer großartigen Einigkeit zu einem Ring zusammengeschlossen, um sich gegenseitig zu fördern und die Arbeit in die Seitentäler zutragen. Der Kreis Wittgenstein, der auch in diese Gemeinschaft gebeten wurde, hat leider abgelehnt, die Stadt Siegen aber tut mit. Wir haben der Kreisstadt verständigerweise die Führung des Verbandes überlassen: Vorsitzender Baurat Simony, während Hermann Forschepiepe als 2. Vorsitzender bestimmt wurde» Die Satzung füge ich bei.
Eine Kette von wichtigen, teils kleinen Massnahmen sind, nach und nach in den kulturellen Aufbau hineingegeben worden: etwa 80 öffentliche Büchereien versorgen uns mit guten Büchern. Ab und zu – etwa halbjährlich halten wir im Verein, mit der Hagener Beratungsstelle eine Arbeitstagung ab. Um die Jugend in das kulturelle Leben hereinwachsen zu lassen, statten wir die Elternabende mit Darbietungen der Schulkinder aus – um sie grundlegend in Musikverständnis einzuführen, hat Kapellmeister Deisenroth in Volk-, Mittel- und Oberschulen Einführungsvorträge gehalten, und mit seiner Orchesterschule die musikalischen Erläuterungen vorgeführt. Das Schulamt hat großen Wert gelegt, gute Musiker in den abgelegenen Landorten anzustellen, damit die dörflicher Gesangvereine, die sich einen Musikdirektor nicht leisten können, doch in guter Obhut sind. Das Schulamt gibt sich alle Mühe, daß sachlich und methodisch der Schulfunk als neues Unterrichts- und Bildungsmittel eingeführt wird. Die Lichtbildstelle des Stadt- u. Landkreises hat schon wieder hunderte von Filmen. Häufig wird uns aus Elternversammlungen berichtet, daß Schulfilme gezeigt und über den Film als Bildungsmittel gesprochen wurde.
Geplant sind Organisten- u. Dirigentenkurse durch Deisenroth/Hilchenbach. Einem erfahrenen Lehrer haben wir den aufgegeben, in der Stadt Siegen aus den zahlreichen Schulsystemen einen großen Kinderchor aufzustellen» Wenn die Verkehrsverhältnisse besser werden, wird der Chor der Lehrer und Lehrerinnen wieder. erstehen.
In dauernder Abwehr stehen wir gegen schlechte Filme. Der örtlichen Kontrolle entgehen immer wieder einzelne für die Jugend ungeeignete Filme. Gegen einen miserablen englischen Film haben wir bei der Militärregierung schriftlich und mündlich energisch Einspruch erhoben, haben uns beim Kulturausschuß über die Gepflogenheit der Filmzensur erkundigt und dem westdeutschen Tagebuch des NWR unsern geharnischten Protest zugeleitet. Die neue Währung hat den Kinobesuch durch die Jugendlichen sehr beschnitten – immerhin verdient unsere heutige Kinokultur auch diesen Besuch nicht.
Sorge macht uns die häufige Erlaubnis für Tanzlustbarkeiten, vermutlich suchen die Gemeinden in dieser Finanzmisere sich durch Vergnügungssteuern stark zu machen. Auf der eine Seite hält man bewegliche Elternversammlungen über „Jugend in Not“ und fördert auf der anderen Seite durch ein Übermaß seichter Vergnügungen, bei denen das Geld mit vollen Händen für Wein usw. ausgegeben wird.
Nach dem 1. Weltkrieg tauchten die dörflichen Theatervereine auf, die mit Schmarren wie „Wuppke kommt“ durch das Land zogen – heute grassiert dieses Übel noch mehr, und wir müssen Mittel und Wege finden, diesem geschäftlichen Unfug ein Ende zu machen. Das geplante Kulturamt des Landkreises wird sich der Bühnen Leute noch sehr annehmen müssen.
Die meisten „Kunstgewerbler“ sind bei der neuen Währung gestrandet. Ihre Werke werden lange noch als Ladenhüter auf dumme Käufer warten. – Dem Fußballsport, dem Tanzlehrer und den Conferenciers stehen wir mit aller Reserve gegenüber – kurz: alles, was Freude bringen kann, wird von uns gerne gefördert, blosses Vergnügen suchen wir nachdrücklich abzuwehren.
Die Zusammenarbeit mit den Jugendverbänden ist gut, sie tun verständnisvoll mit. Mit dem Bezirksjugendpfleger hatten wir im Jahre 1947 einen achttägigen Kursus für Jugendpflege vorbereitet – leider konnte der Plan wegen Kohlenmangel und Saalschwierigkeiten nicht ausgeführt werden.
Die kulturelle Arbeit in den abgelegenen Landgemeinden wird herkömmlich vom Lehrer geleistet. Weil manche Lehrer kein Residenzrecht in den Gemeinden haben – die Lehrerwohnungen werden ihnen wegen Unterbringung von Flüchtlingen vorenthalten – können bei dem Hin- und Herreisen und der sich ergebenden Ortsfremdheit kulturelle Aufgaben von diesen Lehrern nicht unternommen werden. Wir erkämpfen nur langsam die Wohnungen zurück und finden sehr oft nicht die notwendige Unterstützung der Ortsbehörden.
Dieser Tage war ein Sängerfest in Kredenbach. Wie ein Teilnehmer berichtet, war jeder zweite Mann besoffen gewesen. Die Zeltpächter haben Wein und Sekt und Zigaretten in rauhen Mengen mit empfindlichen Aufschlägen verkauft – dabei müht man sich auf der anderen Seite, daß Eintrittsgeld für einen Volkshochschulkurs auf 50 Pfg. herabzuhandeln.
Die malenden und bildenden Künstler sind eine Nation für sich. Sie treten nur mit einer gelegentlichen Ausstellung und ziemlicher Geschäftlichkeit in Erscheinung.“

3 Gedanken zu „Kultur im Siegerland zwischen 1945 und 1948

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